09.05.2023 - Gesellschaft , Politik

Agrounia - eine reale Konkurrenz für die PiS?

Logo Agrounia

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Update vom 31.08.2023: Am 16.08.2023 wurde offiziell verkündet, dass Michał Kołodziejczak und seine Partei Agrounia bei den bevorstehenden Wahlen auf der Liste der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) kandidieren werden. Kołodziejczak tritt auf der ersten Position der Wahlliste im Wahlkreis Nr. 37 (Konin, Großpolen) an. Zusammen mit der KO beabsichtigt der junge Parteiführer das ländliche Elektorat von der regierenden PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) „zurückzuerobern“. Obwohl Kołodziejczak in der Vergangenheit scharfe Kritik auch an der KO ausübte, sieht er in diesem Schritt die einzige Chance, die polnische Politik wirklich mitgestalten zu können und bezeichnet seine Entscheidung als „höhere Gewalt“. Diese Ankündigung löste das zwei Monate andauernde und bis dahin bestehende Bündnis zwischen Agrounia und der Partei Nowa Demokracja TAK (dt. Neue Demokratie JA) auf, was laut eigenen Aussagen, für den Vertreter der Partnerpartei Marek Materek, überraschend kam. 

Update vom 23.5.2023: Mit dem heutigen Tag hat die Porozumienie das Bündnis mit Agrounia aufgekündigt.

Selbst in einer modernen Welt, in der Technologie und Wissenschaft florieren, bleibt die Landwirtschaft für viele Länder eine der wichtigsten Branchen. Polen ist reich an landwirtschaftlichen Nutzflächen und besitzt einen lebendigen Bauernstand. Bäuerliche Familienbetriebe sind das Rückgrat der polnischen Landwirtschaft und haben in den letzten Jahren eine besondere Rolle bei politischen Entscheidungen gespielt. Die aktuelle Situation rund um die Einfuhr von Getreide und anderen Lebensmitteln aus der Ukraine sorgt für eine aufgeheizte Stimmung auf dem Land. Da die EU 2022 der Ukraine zollfreie Exporte ermöglichte, sehen sich die polnischen und andere Landwirte im östlichen Europa bedroht. Die Agrounia organisiert zurzeit Proteste gegen den Import landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine und setzt sich für die Wiedereinführung von Zöllen auf ukrainische Lebensmittel ein.

Mit Aktionen wie „Streik der 1000-Traktoren“ oder einem elftätigen Streik in der grenznahen südostpolnischen Stadt Hrubieszów zeigt Agrounia unter Leitung von Michał Kołodziejczak ihre volle Unterstützung für die besorgten Bauern. Der Verlauf der Proteste wird auf den Kanälen der Partei in den sozialen Medien ausführlich dokumentiert, wodurch der Vorsitzende eine große mediale Präsenz erlangt hat. Kołodziejczak befürwortet ausdrücklich Hilfeleistungen für die vom Krieg betroffenen Ukrainer, solang diese nicht auf Kosten der polnischen Bauern stattfinden. Bis jetzt wird diese relativ neue Partei jedoch nicht als ein großer Player auf der politischen Bühne Polens angesehen. Ein Bündnis mit der Partei Porozumienie (Verständigung) soll helfen, die 5%-Hürde zu überwinden. Nach wie vor fehlen jedoch noch ein Programm und eine vereinte Vorgehensweise. Laut einer aktuellen Umfrage könnte Agrounia zusammen mit ihrer Partnerpartei Porozumienie gerade einmal 0,2 Prozent der Stimmen erhalten, womit das Bündnis den Einstieg in den Sejm eindeutig verpassen würde. Trotzdem kann diese Partei eine bedeutende Rolle bei den kommenden Wahlen spielen, indem sie ein paar Prozentpunkte der Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) oder der PSL (Polnsiche Volkspartei) mit ihrer ursprünglich vor allem bäuerlichen Klientel wegnehmen kann.

Von einer sozialen Bewegung zu einer Partei

Agrounia startete als eine gesellschaftliche Bewegung, die sich ganz besonders für die Bauern einsetzte. Michał Kołodziejczak, der als Ratsmitglied der zentralpolnischen Gemeinde Blaszki auf der Liste der regierenden PiS gewählt und später aus der PiS ausgeschlossen wurde, gründete 2018 eine Bewegung namens Unia Warzywno-Ziemniaczana (Gemüse- und Kartoffel-Union). Dieser Verein brachte mit seinen Aktivitäten frischen Wind in die Bauernpolitik und verlieh den Landwirten eine Stimme, die sich seit der Wende von 1989/1990 benachteiligt sahen. Der charismatische Vorsitzende der Bewegung führte zahlreiche Gespräche mit dem Ministerium für Landwirtschaft und Ländliche Entwicklung, verhinderte die Beteiligung von Politikern an seinen Bauernprotesten und ließ die Betroffenen selbst zu Wort kommen.

Protestiert wurde vor allem gegen die von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ergriffenen Maßnahmen gegen die Verbreitung der Afrikanischen Schweinepest. Im Dezember 2018 wurde die Stiftung Agrounia registriert, die das Werk fortsetzte. Im Mai 2021 verkündete Kołodziejczak das Vorhaben, eine sozialdemokratische Volkspartei zu gründen, da diese in der politischen Landschaft Polens dringend gebraucht wurde. Dabei betonte er, wie wichtig es sei, sich an die Verfassung und die Marktwirtschaft zu halten. Diese Entscheidung resultierte unter anderem aus der Enttäuschung über die PiS-Regierung — einer Partei, die gerne von Landwirten gewählt wurde. Kołodziejczak warf der Regierungspartei Betrug vor, da sie keine Versprechen erfüllt habe, die den ländlichen Raum und die Landwirte betrafen. Die Kritik war ebenfalls auf eine andere Bauernpartei gemünzt, die PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe). Diese drückte sich vor allem in dem Vorwurf aus, das polnische Land verraten und es in die Hände der PiS übergeben zu haben. Somit habe die PSL ihre ländliche Wählerschaft im Stich gelassen und die Interessen der Bauern nicht stark genug vertreten. Agrounia gilt ihrem Selbstverständnis nach als eine rebellische Bauernbewegung, deren Augenmerk vor allem auf der polnischen Provinz, der Verteidigung des einheimischen Marktes und der Förderung der bäuerlichen Familienbetriebe liegt.

Die Postulate der Agrounia wurden auf dem ersten Programmkongress im Dezember 2021 klar definiert. Das Programm sieht vor allem den Schutz von polnischen Lebensmitteln, Landwirten und der Landwirtschaft im breiten Sinne des Wortes als oberste Priorität. Darüber hinaus möchte die Partei die Oligopole und Monopole großer Unternehmen auf dem polnischen Lebensmittelmarkt abschaffen, um somit die Chancengleichheit für kleine landwirtschaftliche Familienbetriebe zu fördern und die Regale in polnischen Geschäften mindestens zu 51% mit heimischen Produkten zu füllen. Zu den heiß diskutierten Forderungen zählt vor allem die Zwangspensionierung von Politikern nach Erreichen einer Altersgrenze von 65 Jahren, wodurch Spielräume für Nachwuchspolitiker freigegeben werden sollen. Unter den meist konservativen Forderungen lässt sich aber auch der volkstümlich-linke Stil der Partei erkennen: Der Vorsitzende sprach sich nämlich auch für die Legalisierung des Besitzes kleiner Mengen von Marihuana aus und unterstützte die Gewerkschafter des Handelsriesen Amazon bei ihren Protesten gegen die Ausbeutung von Beschäftigten in den polnischen Logistikzentren des Unternehmens. Die Mitglieder der Agrounia, die sich in ihren Postulaten ebenfalls für das Wohlergehen der Arbeiter und Arbeiterinnen aussprechen, gingen zusammen mit den Gewerkschaftlern im November 2021 durch Warschau, um gemeinsam gegen große Unternehmen zu protestieren.

Strajk kryzysowy Michal Kolodziejczak i Agrounia

 

 

Das Copyright für das Bild „Strajk kryzysowy - Michal Kolodziejczak i Agrounia.jpg” (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Strajk_kryzysowy_-_Michal_Kolodziejczak_i_Agrounia.jpg ) liegt bei Tomasz Molina. Das Bild wird im Rahmen der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International-Lizenz verwendet.

Das Bild entstand während des Krisenstreiks – einer Demonstration zur Energie-und Klimasituation in Polen – am 28. Oktober 2022 in Warschau. Dieser Streik wurde zwar nicht von Agrounia organisiert, doch die Partei sicherte ihm ihre volle Unterstützung zu. Mit Postulaten wie „Dörfer und Städte: Schluss mit Armut“ auf den Plakaten solidarisierten sich Michał Kołodziejczak (rechts im Bild) und andere Parteimitglieder mit Aktivisten und Aktivistinnen. 

Protestaktionen und das Erbe der Samoobrona

Mit Protestaktionen, die mit ihrer Wucht an die einstigen Proteste der rebellischen Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) von Andrzej Lepper erinnerten, sorgte die Bewegung rund um Michał Kołodziejczak um Aufsehen. Der Anführer der Agrounia gilt seit ihrer Gründung als „zweiter Andrzej Lepper“[1] und stützt sich bei seinem Kampf um den Einzug in die Politik auf eine ähnliche Energie und ein ähnliches Umfeld wie seinerzeit Samoobrona. Einst kippte Andrzej Lepper Getreide auf Bahngleise, fast zwei Jahrzehnte später warf Kołodziejczak Kadaver vor das Haus des PiS Partei-Chefs Jarosław Kaczyński und blockierte öffentliche Plätze in der polnischen Hauptstadt. Die Vergleiche mit dem Parteiführer der Samoobrona stören Kołodziejczak nicht, er selbst sieht sich aber als Fortsetzer des Werks von Kornel Morawieckis Solidarność Walcząca (Kämpfende Solidarität), einer radikalen antikommunistischen Untergrundgruppierung aus den 1980er Jahren. Den Vater des jetzigen Premierministers Mateusz Morawiecki bezeichnet er als einen „wahren Rebellen“, seinen Sohn hingegen als einen „fügsamen Teddybär“, was seine Stimmung gegenüber der Regierungspartei nochmals unterstreicht. Samoobrona hat zehn Jahre gebraucht, bis sie 2001 in die polnische Regierung einzog. Kołodziejczak will bereits fünf Jahre nach Gründung seiner Agrounia in das Parlament einziehen – nur so könne etwas verändert werden. Die Ambitionen waren groß — der Parteiführer sprach von einem zweistelligen Ergebnis. Das oberste Ziel, die Probleme der polnischen Landwirtschaft zu einem zentralen Politikfeld zu machen, bleibt weiterhin bestehen. Während die Umfragen nach der Gründung der Partei mit mehr als fünf Prozent überraschend positiv ausfielen, sieht die Situation derzeit anders aus. Der Zusammenschluss mit der liberal-konservativen Partei Porozumienie (Verständigung) sollte der Abstiegstendenz vorbeugen und den Einstig in den Sejm sichern.

Koalitionspotential und der Zusammenschluss mit Porozumienie

Agrounia hat theoretisch eine hohe Koalitionsfähigkeit – sie könnte mit der PSL, der Linkspartei Lewica, der rechtsextremen Konfederacja oder sogar mit der PiS zusammenarbeiten. Kołodziejczak war immer offen für Gespräche mit Vertretern aller Parteien um die Postulate anderer kennen zu lernen und herauszufinden, wer als möglicher Bündnispartner in Frage käme. Da Agrounia sich für kein politisches Lager eindeutig aussprach, standen der Partei alle Türen offen – wäre da nicht die offene Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum die Vorsitzenden von Porozumienie und Agrounia – Magdalena Sroka und Michał Kołodziejczak – eine inhaltliche Erklärung zur Zusammenarbeit unterzeichnet haben. Das Dokument bildet die Grundlage für die künftige Zusammenarbeit der beiden Parteien, die ihre Kräfte im Vorfeld der Wahlen 2023 bündeln. Am 15. März 2023 wurde die neue Partei Ruch Społeczny (Soziale Bewegung) vom Warschauer Gericht registriert. Mit ihrer Gründung soll die für Koalitionen geltende Wahlhürde von 8% umgangen werden – durch die Gründung einer gemeinsamen (Schirm-)Partei sind sie nur an die 5 %-Hürde gebunden. Die Verbindung zwischen der Bauernpartei mit sozialdemokratischen Tendenzen und der konservativ-liberalen bürgerlichen Partei kam für viele überraschend.

Eine Gemeinsamkeit ist sicherlich, dass beide Parteien in den letzten Jahren erhebliche Umwälzungen erlebt haben. Die Porozumienie hat die Koalition mit der PiS nach sechs Jahren gemeinsamer Regierung verlassen und kritisiert diese nun von liberalen Positionen aus. Agrounia hingegen hat sich innerhalb von drei Jahren von einer mit der extremen Rechten verkehrenden Bewegung zu einer Partei gewandelt, die ein sozialdemokratisches Modell vertritt. Den Vorwurf, solch ein Zusammenschluss sei nur ein Überlebungskampf, lehnt Kołodziejczak vehement ab – die Erweiterung der Interessengebiete sei notwendig, um eine wichtige politische Kraft Polens werden zu können. Um in den Städten nicht nur als Bauernverteter zu gelten, benötigte Agrounia einen Partner und die Wahl fiel auf Porozumienie. Darüber hinaus sollen sich beide Gruppierungen nach eigenen Aussagen gegenseitig ergänzen. Eine Auffrischung hat aber auch die Porozumienie selbst dringend gebraucht: Seit dem Ausscheiden aus der Regierungskoalition hat sie vergeblich versucht, ihren Platz auf der politischen Bühne zu finden. Und da es sich um eine Partei handelt, deren Unterstützung in den Umfragen unter einem Prozent lag, erforderte dies zwangsläufig ein Bündnis mit einer anderen Gruppierung. Die PSL hatte eine Zusammenarbeit mit Porozumienie nie ausgeschlossen, dafür aber keine Unterstützung bei den anderen Oppositionsparteien gefunden. Zumal an der Spitze bis vor kurzem Jarosław Gowin stand, der sich als einst wichtiger Koalitionspartner der PiS unter den Oppositionskollegen keiner großen Beliebtheit erfreute. Im Dezember 2022 trat Gowin als Parteivorsitzender zurück und Magdalena Sroka, die zum ersten Mal im Sejm sitzt, übernahm die Führung. Dieser Tausch bedeutet sicherlich eine gewisse Verbesserung für das Image der Porozumienie.

Die Gespräche mit der PSL dürften jedoch dadurch erschwert worden sein, dass diese ihre Zusammenarbeit mit der Partei Polska 2050 intensivierte – was weithin als Vorspiel für eine gemeinsame Kandidatur bei den Wahlen angesehen wurde. Daher auch die Hinwendung der neuen Parteivorsitzenden zur Agrounia. Das Programm des neuen Bündnisses soll auf einem Parteitag vorgestellt werden, ein genaues Datum und der Ort des Geschehens wurden jedoch bis jetzt nicht bekannt gegeben. Die Hintergründe von Ruch Społeczny sind überzeugend: Porozumienie, als ein ehemaliger Koalitionspartner von PiS, und viele Aktivisten der Agrounia, die früher der PiS angehört hatten, sprechen plausibel von enttäuschten Hoffnungen. Ohne eine Wahlliste mit Gesichtern von Politikern, die eindeutig mit der Opposition verbunden sind, steigt die Chance, bisherige PiS-Wähler auf die eigene Seite zu ziehen. Da die Platforma Obywatelska (Bürgerplatform) und die Lewica (die Linken) derzeit ideologisch zu weit von „ihrer“ Partei entfernt sind, würden die PiS-Wähler nicht für diese stimmen. Die Unentschiedenen brauchen eine Partei, die nicht eindeutig der Opposition zuzuordnen ist. Der Zusammenschluss von PSL und Polska 2050 erfüllt dieses Kriterium für viele nicht mehr. Daraus ergibt sich die Chance für eine neue Formation, die auch die ländliche Wählerschaft anspricht. Auf die Frage, wie Agrounia die ländliche Wählerschaft der aktuellen Regierung abwerben möchte, antwortet Kołodziejczak: Mit vertrauenswürdigen Menschen, die auf der lokalen Ebene agieren. Zwar wird Agrounia keine reale Bedrohung für die regierende Partei darstellen und mit ihrem Partner nicht das erwünschte Ergebnis erzielen können, sie könnte jedoch der PiS einen Strich durch die Rechnung machen und ein paar Prozent der Stimmen abfangen, die dann zur Bildung der Mehrheitsregierung fehlen könnten.

Fazit

Die meisten Umfragen sehen zurzeit die Initiative unterhalb der Wahlhürde. Die Vorsitzenden der Agrounia und von Porozumienie verweisen auf die Unterstützung, die sie bei Versammlungen in ganz Polen erfahren, und bleiben weiterhin optimistisch. Bei fast allen Parlamentswahlen konnte bis jetzt eine neue Partei von außerhalb der bestehenden politischen Landschaft einen bestimmten Anteil der Stimmen für sich gewinnen, zum Beispiel die Palikot-Bewegung 2011, vier Jahre später Kukiz’15 sowie die Partei Nowoczesna von Ryszard Petru. Gelingt es den Parteien, die enttäuschten PiS-Wähler, ­­­­­­­­­ vor allem die Bauern und die junge Generation zu überzeugen, könnten sich für sie die Sejm-Türen noch öffnen. Der Wahlkampf dauert schließlich noch mindestens fünf lange Monate. 



[1] Andrzej Lepper (1954-2011) war ein polnischer Politiker und Gewerkschafter. Mit seiner Partei Samoobrona setzte er sich während der marktwirtschaftlichen Reformen der 1990er Jahre für die protestierenden Landwirte in Polen ein. Besondere Aufmerksamkeit erbrachte ihm die Organisation landesweiter Straßenblockaden und das Auskippen von importiertem Getreide auf Bahngleise. Bei den Parlamentswahlen 2001 konnte seine Partei mit 10,2% der Stimmen ins Parlament einziehen.