14.05.2020 - Politik, Gesellschaft

Alles bleibt anders – zu den jüngsten politischen Volten rund um die polnische Präsidentschaftswahl

PalacPrez BlogBS14052021

Traditioneller Urnengang oder Briefwahl? Mai 2020 oder 2022? Verfahren und Zeitpunkt der anstehenden Präsidentschaftswahl in Polen waren zuletzt Gegenstand immer neuer politischer Volten und medialer Spekulation. Dass die Wahlen in Zeiten der Corona-Krise nicht am 10. Mai stattfinden können, war bereits seit Längerem abzusehen. Allein, als offizieller Wahltermin blieb das Datum bis zum Schluss bestehen, einschließlich der großen TV-Debatte am 6. Mai mit allen Kandidaten. Der folgende Beitrag analysiert die politische Debatte in Polen rund um die Frage, wie und wann die Wahlen stattfinden sollen und zeigt das derzeit wahrscheinlichste Entwicklungsszenario auf.

Gemäß der polnischen Verfassung obliegt es dem Sejmmarschall (Parlamentspräsident), den Termin für die Präsidentschaftswahlen festzulegen. Diese dürfen nicht früher als 100 und nicht später als 75 Tage vor dem Ende der laufenden Amtszeit stattfinden und müssen auf einen arbeitsfreien Tag fallen. Den Vorgaben entsprechend terminierte die Sejmmarschallin die Wahlen auf den 10. Mai, eine möglicherweise notwendige Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten hätte zwei Wochen später stattgefunden. Dann kam die Corona-Krise.

Polen reagierte früh und mit resoluten Maßnahmen auf die Pandemie (Grenzschließung, Versammlungsverbot, Ausgangsbeschränkungen). In der Folge forderten zahlreiche Experten und Kommentatoren eine Verschiebung der Wahlen, weil sie unter den gegebenen Umständen nicht frei und fair verlaufen könnten. Es gebe keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten was die Wahlkampfführung betrifft. Während sich die Herausforderer aufgrund der Restriktionen vor allem auf den Wahlkampf in den sozialen Medien beschränkten, war Andrzej Duda als amtierender Präsident während der Krise in Funk und Fernsehen dauerpräsent, was sich auch in den Zustimmungsraten bemerkbar machte. Hatten vor Beginn der Corona-Krise bereits rund 40 Prozent der Befragten angegeben, dem derzeitigen Amtsinhaber ihre Stimme zu geben, so stieg der Anteil der potenziellen Duda-Wähler während der Krise auf über 50 Prozent, was ihm einen Sieg im ersten Wahlgang beschert hätte.

In dieser Situation, etwa zeitgleich mit der Verhängung des Epidemie-Zustands am 20. März, signalisierte Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), in dessen Händen die eigentliche Regierungsmacht liegt, am 10. Mai als Wahltermin festhalten zu wollen. Das politische Kalkül hinter diese Entscheidung war offensichtlich: in Krisenzeiten sammelt sich die Wählerschaft um Amtsinhaber Duda, für den eine zweite Amtsperiode zum Greifen nahe war. Im gleichen Zeitraum sprachen sich laut Umfragen jedoch über 70 Prozent der Polen für eine Verschiebung der Wahlen aus. Zudem gaben über 40 Prozent der Befragten an, im Falle eines Festhaltens am ursprünglichen angesetzten Termin den Wahlen fernbleiben zu wollen. Während sich Kaczyński bei „seinem“ Präsidentschaftskandidaten der Unterstützung der Wähler relativ sicher sein konnte, galt dies nicht für den von ihm anvisierten Wahltermin.

In der Nacht vom 27. auf den 28. März überraschten die PiS-Abgeordneten dann mit einer Änderung des Wahlgesetzes im Rahmen der parlamentarischen Arbeiten zum sogenannten Antikrisenschild, der vor allem die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft abmildern sollte. Demnach sollte die Briefwahl, die bislang nur Menschen mit Behinderung offenstand, fortan auch für sich in Quarantäne befindliche Personen sowie für Wähler über 60 Jahren möglich sein. Kritiker monierten, dass das Gesetz laut einer Fallentscheidung des Verfassungstribunals nicht verfassungskonform sei, da grundsätzliche Änderungen des Wahlgesetzes nicht später als sechs Monate vor der Wahl vorgenommen werden dürften.

Zwar wies der von der Opposition dominierte Senat, die erste Kammer des polnischen Parlaments, den Entwurf Ende März zurück und verwies ihn zurück an die von der PiS dominierte erste Kammer, den Sejm. Abgeordnete der Regierungspartei warteten aber sogleich mit einem neuen Gesetzesentwurf auf, der die Einführung der allgemeinen Briefwahl vorsah (siehe DPI-Blog-Beitrag #5). Es stand zu erwarten, dass der Senat von seinem Recht, 30 Tage über das Gesetz zu beraten, Gebrauch machen würde, sodass es dem Sejm erst kurz vor dem Wahltermin am 10. Mai erneut zur Abstimmung vorgelegen hätte. Eine landesweite allgemeine Briefwahl unter diesen Umständen zu organisieren, schien schlechterdings unmöglich. Und doch setzte die PiS in den Folgewochen sämtliche Hebel in Bewegung, um eben dieses Szenario zu verwirklichen. Sie entzog der Staatlichen Wahlkommission (PKW) die Kompetenz, die anstehenden Wahlen zu organisieren und übertrug diese Aufgabe der Polnischen Post unter der Aufsicht des Ministers für Staatsvermögen Jacek Sasin. Obwohl das Gesetz noch nicht verabschiedet worden war und es somit keine Rechtsgrundlage gab, wurden die Anstrengungen zur Einhaltung des Wahltermins fortgesetzt: der Druck und Versand der Wahlunterlagen wurden in Auftrag gegeben und die Post forderte von den Kommunen die Wählerverzeichnisse an.

Mit ihrem Vorgehen brachte die PiS nicht nur die Parteien der Opposition gegen sich auf, sondern auch den eigenen Koalitionspartner von der gemäßigt konservativen Partei Porozumienie, allen voran Parteichef Jarosław Gowin, zugleich Vizepremier und Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung. Während das Gesetz zur Einführung der allgemeinen Briefwahl noch immer vom Senat bearbeitet wurde, präsentierten Gowin und Vertreter der Opposition mehrere Vorschläge, die allesamt das Ziel hatten, die auf den 10. Mai terminierten Wahlen zu verschieben.

Der Vorschlag von Porozumienie-Chef Gowin sah eine Verfassungsänderung vor, die die Amtszeit des Präsidenten um 2 Jahre auf insgesamt 7 verlängert und eine Wiederwahl ausgeschlossen hätte. Die Präsidentschaftswahlen hätten demnach erst 2022 stattgefunden, und zwar traditionell mit der Stimmabgabe im Wahllokal. Allerdings gelang es Gowin nicht, neben der Regierung auch die Opposition von seinem Vorhaben zu überzeugen, auf deren Unterstützung der Vorschlag angewiesen war, da eine Verfassungsänderung zwei Drittel der Abgeordnetenstimmen benötigt. Nachdem dieses Vorhaben gescheitert war, versuchte Gowin Kaczyński davon zu überzeugen, eine 90-tägige Legisvakanz in den Gesetzesentwurf zur Wahlrechtsänderung einzufügen und auf diese Weise die Wahlen zu verschieben. Kaczyński lehnte ab, Gowin trat am 6. April von seinen Regierungsämtern zurück, blieb aber gleichwohl Parteichef und plädierte für einen Fortbestand der Regierungskoalition.

Doch auch die Bürgerkoalition (KO) um ihren Vorsitzenden Borys Budka versuchte sich durch einen eigenen Vorschlag wieder ins Spiel zu bringen. Demnach sollten die Wahlen auf den 16. Mai 2021 verschoben werden, die Stimmabgabe sollte sowohl im Wahllokal als auch per Brief- und Online-Wahl möglich sein. Grundlage hierfür wäre die Verhängung des Ausnahmezustands, was auch viele andere Oppositionspolitiker forderten. Der Ausnahmezustand kann im Falle einer Naturkatastrophe wie der COVID-19-Pandemie vom Ministerrat für maximal 30 Tage verhängt und vom Sejm anschließend verlängert werden. Während des Katastrophenfalls und bis 90 Tage nach seiner Aufhebung dürfen weder Wahlen noch Referenden abgehalten werden. Die Opposition rechnete sich bei einer Verschiebung der Wahlen bessere Chancen gegenüber Amtsinhaber Duda aus, falls dieser angesichts der sich anbahnenden wirtschaftlichen Rezession an Zustimmung in der Wählerschaft verlieren würde. Aus den gleichen Gründen dürfte die Regierung dem Ausnahmezustand stets ablehnend gegenübergestanden haben. Zur Umsetzung seines Vorhabens wäre Budka auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen gewesen, doch es gelang ihm weder Porozumienie-Chef Gowin – mit dem Gespräche stattfanden – noch die Abgeordneten der Linken – die eine Verfassungsänderung vehement ablehnten – von seinem Vorschlag zu überzeugen.

Je näher der 6. Mai rückte, an dem der Senat über die Gesetzesinitiative zur Einführung der allgemeinen Briefwahl zu entscheiden hatte, desto mehr spitzte sich der Konflikt zwischen PiS-Parteiführer Kaczyński und Porozumienie-Chef Gowin zu. So versuchte Kaczyński, mit der Aussicht auf einflussreiche Posten, einzelne Abgeordnete der Opposition und von Porozumienie auf seine Seite zu ziehen, letztlich erfolglos. Angesichts der unsicheren Mehrheitsverhältnisse im Sejm stand kurzfristig sogar der Fortbestand der Regierungskoalition auf dem Spiel.

Am Abend des 6. Mai, kurz nach der abendlichen TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten, kam dann die große Überraschung. Jarosław Kaczyński und Jarosław Gowin hatten nach intensiven Gesprächen doch noch zu einer Einigung gefunden: der Wahltermin bleibt offiziell bestehen, aber die Wahlen finden nicht statt. Das Oberste Gericht hätte demnach die Wahlen für ungültig erklären sollen. Anschließend würden der Sejmmarschallin vierzehn Tage bleiben, um einen neuen Wahltermin innerhalb der folgenden sechzig Tage festzulegen.  Die Wahl würde dann als reine Briefwahl stattfinden. Als mögliche Wahltermine wurden der 28. Juni und der 12. Juli gehandelt. Auf dieser Grundlage stimmten die Porozumienie-Abgeordneten dem PiS-Gesetzesentwurf am 7. Mai schließlich zu.

Die Regierungskoalition hat in der bislang schwersten Krise seit ihrem Bestehen zwar etliche Blessuren davongetragen, die Regierung hat aber weiterhin Bestand. Dass die Krise letztlich durch die beiden Partei-Chefs, ohne Zutun der Regierung, auf fragwürdigen rechtlichen Annahmen basierend, im Hinterzimmer ausgehandelt wurde, hinterlässt einen faden Beigeschmack. Gleichzeitig scheint das Rennen um die Präsidentschaft wieder offen zu sein. Zudem hat die PiS am 12. Mai einen weiteren Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlrechts vorgelegt, der es den Wählern freistellt ihre Stimme im Wahllokal oder per Briefwahl abzugeben und die Organisation wieder in die Hände der Staatlichen Wahlkommission legt. Damit scheint nicht ausgeschlossen, dass den jüngsten Volten rund um die polnische Präsidentschaftswahl bald neue folgen werden.