20.08.2020 - Geschichte, Gesellschaft , Politik

Anna sucht das Paradies – Anmerkungen zu einer neuen Biographie über Anna Walentynowicz und den 40. Jahrestag der Entstehung der Solidarność

Anna Walentynowicz und Lech Walesa 1980 Wikimedia CC BY SA 3.0

Der Polen-Korrespondent Ulrich Krökel hat jüngst einen Artikel zum Jubiläum der Solidarność veröffentlicht,: „40 Jahre Solidarnosc in Polen. Wie aus Solidarität Hass wurde“[i].

Wer verstehen will, was sich hinter diesem Titel verbirgt, findet in einer neuen Biographie über Anna Walentynowicz viele Antworten, nicht nur über das Leben der Titelheldin, sondern auch über die Geschichte der Solidarność und über das heutige Polen.[ii] Anna Walentynowicz war neben Lech Wałęsa das bekannteste Gesicht der Streiks auf der Danziger Leninwerft im August 1980. Die Entlassung der Kranführerin am 6. August war der unmittelbare Anlass zum Beginn des Streiks am 14. August. Die Arbeiter*innen forderten die Wiedereinstellung der geschätzten Kollegin.

In diesen Wochen war die Situation in Polen angespannt. Nach Preiserhöhungen für Lebensmittel war es seit Anfang Juli im ganzen Land zu Streikaktionen gekommen. Gefordert wurden Lohnerhöhungen, meist gaben die Betriebe nach, die Streikwelle lief ins Leere. Nichts deutete darauf hin, dass sich angesichts der wirtschaftlichen Misere in Polen etwas zum besseren ändern würde. Durch den Streik auf der Leninwerft änderte sich die Situation jedoch schlagartig. Denn hier gab es eine kleine Gruppe von Menschen, die sich seit 1978 in einer „Freien Gewerkschaft“ organisiert hatten. Unterstützt wurden sie vom Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Hier war auch die Erinnerung an die blutig niedergeschlagenen Arbeiterproteste vom Dezember 1970 lebendig und man hatte aus den damaligen Fehlern gelernt und sich entsprechend auf eine neue Auseinandersetzung mit der Staatsmacht vorbereitet.

walentynowicz walesa papst 2 c Privatarchiv Janusz Walentynowicz 1Anna Walentynowicz und Lech Wałęsa waren Mitglieder der freien Gewerkschaft. Das war auch der Grund, warum sie ihren Arbeitsplatz auf der Leninwerft verloren hatten. Der Streik endete mit einem Erfolg der Arbeiter*innen. Ihre 21 Forderungen wurden nach langen Verhandlungen und nachdem sich hunderte von Betrieben im ganzen Land hinter die Streikenden auf der Leninwerft gestellt hatten, erfüllt. Das Bild des schnauzbärtigen Elektrikers Lech Wałęsa als siegreichem Streikführer, der die Kommunisten in die Knie gezwungen hatte, ging um die Welt. Seine Mitstreiterin Anna Walentynowicz und andere verdiente Streikführer traten in den Hintergrund. Dies war einer der Gründe warum aus gemeinsam erfolgreich kämpfenden Oppositionellen im Lauf der Jahre erbitterte Gegner, ja Feinde wurden. Fragen der gewerkschaftlichen Taktik gegenüber den herrschenden Kommunisten kamen dazu.

 Neue Erkentnisse über Walentynowicz

 Walentynowicz vertrat damals radikalere Positionen als Lech Wałęsa, interessanterweise zusammen mit Vertretern des KOR. Jacek Kuroń wurde ihr Freund und Vertrauter, Lech Wałęsa folgte der von Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek formulierten kompromissbereiteren Strategie. Nach den Vereinbarungen vom Runden Tisch wandte sich Walentynowicz von allen ab: Geremek, Kuroń und natürlich Lech Wałęsa waren für sie nur noch Verräter. Wie ist es dazu gekommen? Vielfältige Antworten darauf finden sich im Buch „Anna sucht das Paradies“. Es ist nicht die erste Biographie, die über Anna Walentynowicz geschrieben wurde. Schon 1985 hat Tomasz Jastrun in einem Untergrundverlag eine Biografie veröffentlicht, Walentynowicz hat eine Autobiografie geschrieben, die auch ins Deutsche übersetzt wurde, der umstrittene Historiker (und Hauptkritiker von Lech Wałęsa) Sławomir Cenckiewicz hat 2010 eine umfangreiche Biografie vorgelegt. In Dutzenden von Interviews in Polen und im Ausland hat sich Walentynowicz selbst zu Wort gemeldet. In Volker Schlöndorfs Film „Strajk – die Heldin von Danzig“ ist sie die Protagonistin. Auch im Film „Die Frauen der Solidarność“ wird ihr Beitrag zum Erfolg der Streiks im August 1980 mehr als gewürdigt. Ihr und anderen Frauen wird zugeschrieben, dafür gesorgt zu haben, dass die Arbeiter der Leninwerft aus Solidarität mit den anderen Betrieben am 16. August weiter streikten, nachdem Lech Wałęsa nach finanziellen Zugeständnissen nur für die Belegschaft der Leninwerft den Streik für beendet erklärt hatte.

Warum ist es zu dem Zerwürfnis mit Lech Wałęsa gekommen und warum zerstritt sie sich mit fast allen ehemaligen Mitstreitern, mit Ausnahme der ultranationalistischen, klerikalen, verbissen antikommunistischen Gruppe um Andrzej Gwiazda? Die Biografie von Dorota Karaś und Marek Sterlingow versucht Antworten darauf zu finden. Beide sind Mitarbeiter der Gazeta Wyborcza und man könnte denken, die Biografie sei eine Abrechnung mit Anna Walentynowicz. Nichts wäre falscher als das. Die beiden Autoren haben den Ratschlag der Schriftstellerin Hanna Krall, die selbst ein Porträt von Walentynowicz publiziert hat, berücksichtigt. Sie hatte ihnen geraten: „Ihr sollt sie nicht anklagen und nicht verteidigen. Versucht, sie zu verstehen. Wer sie sein wollte und wer nicht. Wer ihr dabei geholfen hat und wer sie daran gehindert hat.“

walentynowicz cover 1 2 1Große Rechercheleistung

 Ich habe selten ein Buch gelesen, das besser recherchiert ist als diese Biografie. Die Autoren haben in drei Jahren mehr als 100 Interviews durchgeführt, mit Freuden und Gegnern, mit ehemaligen Mitstreitern und mit Vertretern der polnischen Stasibehörden, die sie Tag und Nacht verfolgt, abgehört und schikaniert haben. Sie haben wochenlang in Archiven recherchiert, haben teils verschollene, nicht publizierte Interviews ausgewertet, haben jedes Kapitel mit Historikern diskutiert. Und sie sind außerordentlich vorsichtig in ihren Bewertungen. Für manche Tatbestände bieten sie drei Versionen an, bekennen sich dazu, dass sie sich nicht entscheiden können, welche die richtige Version ist.

Die Geschichte der Solidarność verfolge ich seit 40 Jahren, ich kenne die wissenschaftliche Literatur, ich war im August 1980 als junger Student und Zeitzeuge vor Ort in Danzig. Und trotzdem konnte ich viele Fragen nicht beantworten. Was ist dran an den Vorwürfen, dass Lech Wałęsa als „Bolek“ ein Agent der Stasibehörden war? Hat Walentynowicz tatsächlich zusammen mit anderen Frauen den Streik gerettet? Wie groß war der Einfluss des Geheimdienstes auf die Ereignisse im August 1980 und auf die weitere Entwicklung der Solidarność? Wie konnte es überhaupt zu dem Streik kommen, wer und was war entscheidend dafür, dass der Streik erfolgreich war? Woher kommt der Hass, mit dem sich die ehemaligen Streikführer heute bekämpfen? Auf alle diese Fragen habe ich in diesem Buch überzeugende Antworten bekommen oder vorsichtiger ausgedrückt, Hinweise, dass es so und nicht anders gewesen sein könnte.

Die verschwiegene ukrainische Abstammung

 In einem Interview wurden die beiden Autoren gefragt, wie sie dazu gekommen sind, sich mit Anna Walentynowicz zu beschäftigen. Sterlingow antwortet darauf, dass er ein Buch über die Streiks im August 1980 schreiben wollte, die sein Leben und das Leben von Millionen Polen entscheidend beeinflusst haben. Für seine Mitautorin war es ein anderer Grund. Für sie war die Tatsache, dass bekannt wurde, dass Walentynowicz bis zu ihrem tragischen Tod beim Absturz der Präsidentenmaschine in Smolensk ihren wahren Lebenslauf verfälscht dargestellt hatte, der entscheidende Anlass sich mit ihrem Leben zu beschäftigen. Walentynowicz hatte angegeben, dass sie als katholische Polin, deren Familie am Anfang des Zweiten Weltkrieges ausgelöscht wurde, geboren wurde, ihr Vater als polnischer Patriot im Kampf gefallen und ihr Bruder nach Sibirien verschleppt worden sei. In Wirklichkeit wurde sie in einer protestantischen, ukrainischen Familie geboren, der Vater kämpfte in der Roten Armee und wurde dafür ausgezeichnet, der Bruder kämpfte gegen die Polen in der Ukrainischen Aufständischen Armee UPA. Ihre Familie wurde auch nicht ausgelöscht, am Ende ihres Lebens besuchte sie ihre noch lebende Schwester und andere Verwandte in der Ukraine.

Angesichts des belasteten ukrainisch-polnischen Verhältnisses ist es nicht verwunderlich, dass sie all dies vor der Öffentlichkeit verschwieg. In ihrem nationalistisch-klerikalen Milieu ihrer letzten Lebensjahre hätte sie das diskreditiert. So wie es sie auch diskreditiert hätte, wenn in diesen Kreisen bekannt geworden wäre, dass sie nach 1945 nach ihren schlimmen Erfahrungen als Magd in einer polnischen Familie, die sie einerseits gerettet, aber andererseits auch ausgebeutet hat, sich mit Enthusiasmus zu dem neuen sozialistischen Polen bekannte und sich in sozialistischen Jugend- und Frauenorganisationen betätigte. Als Vertreterin des Verbands der polnischen Jugend nahm Walentynowicz an den Weltjugendspielen 1951 in Ostberlin teil. Als Schweißerin auf der Leninwerft wurde sie zur Bestarbeiterin, die die Arbeitsnormen übererfüllte, sie wurde dafür ausgezeichnet und von der Propaganda der kommunistischen Partei als Vorbild plakatiert. Aber von Anfang an war sie auch eine Rebellin, die trotz der Hofierung durch das Regime gegen soziale Missstände und Ungerechtigkeiten kämpfte, auch dann wenn ihr das gravierende persönliche Nachteile eintrug.

Opportunistin war sie nie. Ihr Privatleben stand unter keinem günstigen Stern. Ihr Partner verließ sie, als sie schwanger war, der Mann, den sie danach heiratete, verstarb nach wenigen Jahren, wiederholt kämpfte sie mit Krebserkrankungen und Depressionen. All das schildern die Autoren mit großer Empathie. Sie zeigen eine Frau mit all ihren Stärken und Schwächen und ihrer tragischen Verstrickung in die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Eine Übersetzung des Buches ins Deutsche könnte viel dazu beitragen, die Geschichte und Gegenwart unseres polnischen Nachbarn besser zu verstehen.



[i] Ulrich Krökel: 40 Jahre Solidarnosc in Polen: Wie aus Solidarität Hass wurde. In: Augsburger Allgemeine vom 12.08.2020.

[ii] Dorota Karaś, Marek Sterlingow: Walentynowicz. Anna szuka raju [Walentynowicz. Anna sucht das Paradies]. Kraków: Znak 2020. 509 S.