02.09.2020 - Erinnerungskultur

Ansprache zum 1. September 2020

29 Blog Foto

Am 1. September 2020 organisierte das Deutsche Polen-Institut eine Gedenkveranstaltung zum 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Neben dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Dr. Dietmar Woidke, DPI-Präsidentin Rita Süssmuth, dem polnischen Botschafter Andrzej Przyłębski und Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal, ergriff auch DPI-Direktor Peter Oliver Loew das Wort. Wir veröffentlichen hier den Wortlaut dieser Rede.

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin, 
sehr geehrter Herr Botschafter,
sehr geehrte Damen und Herren,

 

der 1. September 1939 wird auf immer ein Schreckensdatum der deutschen Geschichte bleiben, und noch viel mehr eines der Geschichte Polens.

Wie sehr unterscheiden sich unsere Erinnerungen.

In Polen ist der 1. September 1939 allgegenwärtig, so wie die unendlich langen 2077 Tage bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, mehr als 2000 Tage des Mordens und Zerstörens, mehr als 2000 Tage, die bis heute schwer auf polnischer Gegenwart lasten.

In der deutschen Erinnerung ist der 1. September 1939 Auftakt für ein fast ganz Europa umspannendes Kriegsgeschehen und Polen allenfalls eines von vielen Elementen der Katastrophe.

Wer weiß in Deutschland schon, was alles in deutschem Namen in Polen zerstört wurde, was geraubt, vernichtet, ausgelöscht wurde, wer verfolgt, gedemütigt, versklavt, verletzt, ermordet wurde? 

Wer macht sich schon klar, wie die wahnsinnige polenfeindliche Propaganda der Nazis aus den Wochen vor dem 1. September 1939 deutsche Vorstellungswelten bis heute prägen?

Und wer macht sich in Deutschland wirklich bewusst, was die deutschen Verbrechen in Polen bis heute für die polnische Gesellschaft bedeuten? Der Tod von rund 6 Millionen Staatsbürgern? Die Vernichtung fast aller 3 Millionen polnischer Juden? Die Zerstörung von Städten, Bibliotheken, Familien?

Man mag es oft vergessen, wenn man sich in den bunten Trubel der dynamischen Großstädte Polens stürzt, an einem masurischen See rastet oder in den Beskiden wandert, aber Kriegserinnerung lauert in Polen hinter jeder Ecke, unter jedem Stein am Wegesrand.

… die Gräber …

… die Leere in den ehemals belebten jüdischen Straßen …

… die Deformation der Geschichte …

… die mehr als vierzig Jahre sowjetischer Dominanz, in die alles mündete … 

Und Kriegs-Erinnerung lauert auch in der Politik und sie lauert in den Beziehungen zwischen Polen und Deutschland.

Um Polens Leid im Zweiten Weltkrieg deutlicher ins deutsche Gedächtnis einzuschreiben, haben Florian Mausbach, mein Amtsvorgänger Dieter Bingen, Rita Süssmuth, Wolfgang Thierse und Andreas Nachama vor drei Jahren die Idee eines Polendenkmals hier auf dem Askanischen Platz vorgeschlagen, eine empathische Geste des Erinnerns, ja des Erinnern-Wollens.

Drei Jahre sind vergangen, und noch gibt es kein Denkmal, noch richtet sich deutsches Weltkriegs-Erinnern weitgehend nach innen, in die eigene Gesellschaft. Man sieht es ja auch hier, am Askanischen Platz, wo wir im nächsten Jahr eine Ausstellung zu Flucht und Vertreibung und in wenigen Jahren ein Exilmuseum besuchen können.

Das sind fraglos ungemein wichtige Initiativen, aber letztlich gedacht für „unsere“, die deutschen Opfer und Verfolgten des Kriegs. Doch was ist mit den Opfern und Verfolgten der anderen? Sollten wir uns nicht minder  verantwortlich für die Erinnerung an sie zeigen, wo der Zweite Weltkrieg doch von Deutschland ausging?

Diese Frage stellt sich seit geraumer Zeit. Deshalb die Initiative „Polendenkmal“, und deshalb die Initiativen, an den Vernichtungskrieg im Osten oder an Besatzungsherrschaft in ganz Europa zu erinnern.

Wir vom Deutschen Polen-Institut haben deshalb versucht, gemeinsam mit der Stiftung Denkmal (lieber Uwe Neumärker) beides zusammenzudenken, und schlagen ein Gedenkensemble vor aus Platz des 1. September 1939, Polendenkmal, Dokumentationszentrum deutscher Besatzungsherrschaft in Europa und Gedenken für einzelne Opfergruppen.

Damit wollen wir endlich – endlich! – Wege bahnen, um eine wahnsinnige Leerstelle nicht nur in der Berliner Erinnerungslandschaft, sondern überhaupt in der deutschen Gesellschaft zu schließen, und um unseren Nachbarn in Europa zu signalisieren: 

Wir denken an Euer Leid und an die Täterschaft Deutschlands. Wir geben Euch Raum, um zu trauern, und wir tun alles, um unsere Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland darüber zu informieren, was wir Euch angetan haben.

Der Ball liegt nun im Spielfeld des Bundestags. Die Zeit wird knapp, die Erwartungen sind hoch, die Notwendigkeit ist gewaltig. 

Und deshalb hoffe ich, dass wir in einem Jahr, am 1. September 2021 bei unserem Gedenken an den Überfall auf Polen schon wissen, dass diese Leerstelle im deutschen Erinnern geschlossen wird und wodurch.