22.09.2021 - Geschichte, Gesellschaft , Erinnerungskultur, Kultur

Das Oberschlesien meines Vaters (1)

1 Grossmutters Haus Beerdigung 2014 5

Mein Vater, seine Schwester und ich vor dem Haus der kurz zuvor verstorbenen Großmutter, 2014. 

Eine gemeinsame oberschlesische Erkundungsreise

Das Anliegen, einen persönlichen Text zum Thema „Oberschlesien“ [1] zu schreiben, brachte mich zuerst in ein Dilemma. In erster Linie verbinde ich Oberschlesien mit meinem Vater – einem von dort aus Volkspolen in die Bundesrepublik eingewanderten Aussiedler. Was erlebte er und seine Familie aber in der Nachkriegszeit in seiner Herkunftsregion und wie sehr prägt das mich heute? Es begann eine gemeinsame Erkundungsreise durch seine oberschlesischen Erinnerungen, wobei ich meinen Vater vertieft interviewte. Recherchen in privaten und öffentlichen Archiven ergänzten das Bild und brachten uns interessante, teilweise neue Erkenntnisse.

Mein Vater Marian Mansfeld, Jahrgang 1950, wurde wie viele seiner Vorfahren in Siemanowice Śląskie (Siemianowitz/-Laurahütte) geboren, ist dort aufgewachsen und arbeitete immer wieder vor Ort. Oberschlesien wurde zuvor besonders tragisch durch die zwei Weltkriege und Revolten gezeichnet, die selbst Familien auseinanderrissen. 1919-1921 gab es drei oberschlesische Aufstände, die letztlich nach einer Volksabstimmung zu der Teilung Oberschlesiens führten, bei der auch Siemianowice und Katowice (Kattowitz) Polen zugeteilt wurden. Es scheint, als verdichtete sich die deutsch-polnische Geschichte in dieser Region grausam, obwohl es neben allen Animositäten vielfach gutes menschliches Zusammenleben gab.

Im Leben meines Vaters hinterließ der Zweite Weltkrieg tiefe Spuren:

„Die Geschichte meiner Familie ist sehr mit den Kriegserlebnissen in Oberschlesien[2] verbunden und davon erschüttert – ich habe durch den Krieg meinen Vater so gut wie verloren, meinen durch den Krieg nach England geratenen Onkel mütterlicherseits traf ich nie persönlich, meine Cousins nicht. Die Familie meiner Großtante wurde in die Sowjetunion verschleppt und nie mehr gesehen... Mein Glück war: Ich war der erste in meiner Familie nach den Generationen zuvor, der nicht in den Krieg musste.“

Meine Mutter stammt von der polnischen Ostseeküste. Ich bin selbst kam 1978 in Poznań (Posen) zur Welt, wo sich meine Eltern während des Studiums kennengelernt hatten. Eine märchenhafte Kindheit verbrachte ich in Janowice Wielkie (Jannowitz) im niederschlesischen Riesengebirge. Dort leitete mein Vater ab 1980 eine große Ferien- und Erholungsanlage für Werktätige aus den „Kattowitzer Reparaturbetrieben der Kohleindustrie“ sowie ihre Familien. Meine Mutter arbeitete dort mit; in der Gegend wurde mein Bruder geboren.

2 Erholungsheim Janowice
Die Ferien- und Erholungsanlage in Janowice mit mir eingekreist, etwa 1983.

Als meine Eltern diese Arbeit 1986 aufgeben mussten, ging es für uns in den väterlichen Heimatort, wo wir in typischen sozialistischen Plattenbauten wohnten. Meine Mutter arbeitete im Kultur- und Bildungsbereich, mein Vater in der Verwaltung der Reparaturbetriebe. Meine Oberschlesien-Zeit sollte nur bis 1989, unserer „Aussiedlung“ in die Bundesrepublik Deutschland, dauern. Nach dem für meine Eltern zu dieser Zeit überraschenden Fall des Eisernen Vorhangs folgten regelmäßige Reisen nach Oberschlesien. Vor allem das Haus meiner Tante in Katowice bildete zu Ostern, zu Weihnachten und zu Familienfesten einen festen Ankerpunkt in Polen.

3 Ostern 1995 Tante Katowice
Ostern 1995 bei meiner Tante in Katowice-Janów.

Die Kindheit meines Vaters: Armut, Zusammenhalt und Abenteuer

Die Kindheit meines Vaters hatte sich im alten Teil von Siemianowice abgespielt, direkt in der Nähe der Bergwerke und Hütten, deren 16 Schornsteine er von seinem Haus aus zählen konnte. Dort gab es keine Hochhäuser, sondern ehemalige deutsche Backsteinbauten (oberschlesisch: „familoki“, etwa: Familienblocks). Zu den dürftigen Wohnverhältnissen sagt mein Vater:

„Die Bergbau-Wohnungen hatten geringe Mieten. Am Anfang gab es in den Wohnungen nicht einmal fließend Wasser, nicht zu sprechen von Toiletten – nur im Hausflur für mehrere Wohnungen zusammen, wo das Wasser im Winter manchmal sogar einfror.“

Mein Vater bei seiner Erstkommunion, 1959.

4 Mein Vater Kommunion 1959.

Durch diese Not wurde ein besonders gemeinschaftliches Zusammenleben gefördert:

„Die Menschen [...] lebten solidarisch zusammen, halfen sich – uns wurde viel geholfen, weil wir dort zu den Ärmsten zählten [...] An die 40-50 Kinder [...] waren in einem Hof, spielten Fußball oder turnten an den Teppichklopfstangen. Einwanderer nach Oberschlesien aus [dem übrigen] Polen waren Tierhaltung gewohnt und haben zunächst sogar Schweine in die engen Haushöfe mitgebracht [...] Wir gaben ihnen dann Kartoffelschalen für die Schweine oder Kaninchen, sie uns später Fleisch oder Wurst. “

Grundsätzlich zog das Gebiet der florierenden oberschlesischen Industrie die dort dringend benötigte Arbeitskraft aller ländlicher Gegenden Polens an. Einige kamen schon allein deshalb, um dem zweijährigen Militärdienst zu entgehen, erzählt mein Vater. Ansonsten waren die Gründe für die Arbeit „in den Gruben“ pragmatisch, wie die vergünstigte Kohle „zum Heizen der Wohnung und zum Kochen“.

In Oberschlesien waren nach dem Krieg entgegen mancher Mythen nicht alle Deutschen weggegangen, vertrieben oder interniert worden. Autochthone wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor die „Wahl“ gestellt, entweder die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen und in der oberschlesischen Industrie zu arbeiten oder das Land Richtung Deutschland zu verlassen. Sog. „Volksdeutsche“ bzw. Menschen, die mehr oder weniger freiwillig auf der „Deutschen Volksliste“ [3] als „Volksdeutsche“ verzeichnet wurden[4], konnten unter Umständen rehabilitiert werden, mussten allerdings im Alltag oft Verfolgung und Diskriminierungen in Kauf nehmen.[5] Manche widersetzten sich der Vertreibung, wie die Großmutter meines Vaters, die auf ihren Sohn warten wollte.

Darüber hinaus sind in der Nachkriegszeit die Sowjets hart gegen Oberschlesier:innen ins Gericht gegangen und internierten diese in Lagern.[6] Zwangsansiedlungen von Menschen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die von der Sowjetunion annektiert wurden, waren ebenso an der Tagesordnung.

Besonders sind meinem Vater die wilden Seiten seines damaligen Daseins im Gedächtnis geblieben:

„Uns Kinder hat die Straße erzogen, nicht immer gut. [...] Es herrschte das Recht des Stärkeren. Es wurde auch gestohlen, vor allem Kohle oder Altmetall zum Verkauf oder wir betrieben Mundraub – klauten Obst, Gemüse oder Eier aus den nahgelegenen Schrebergärten.“

Meine Großmutter – eine Bergbau-Arbeiterin und alleinerziehende Matriarchin

Die Nachkriegszeit war nicht einfach für meine Großmutter Gertruda Mansfeld (geb. Moczygęba, Jahrgang 1929). Ihr späterer oberschlesischer Mann Paul, der für Deutschland in den Krieg zog, dessen genaue deutsche Biografiebezüge aber weder für meinen Vater noch mich recherchierbar sind, kehrte nach dem Krieg 1947 aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurück. Sie heirateten und hatten dann vier Kinder, als zweites Kind meinen Vater. Von der Kriegszeit seines Vaters weiß mein Vater übrigens kaum etwas, außer, dass er in der Panzertruppe eingesetzt war und 1943 in Griechenland, wo er Malaria bekam.

 

Eine Grußkarte meines Großvaters von der Kriegsfront in

Griechenland aus dem Jahr 1943 mit aufgeklebten Porträts

von seiner Mutter und ihm.

6 Frontgruesse Athen 43 Opa Paul u. MutterEinige Jahre nach seiner Rückkehr wurde mein Großvater durch einen miterlebten tödlichen Grubenunfall stark traumatisiert und musste von meiner Großmutter immer wieder in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden, während sie erzwungenermaßen die Rolle des Alleinverdieners im Steinkohlebergwerk Siemianowice übernahm. Es war harte Arbeit, im Schnitt sechs Tage die Woche. Bis heute bleibt es ein Rätsel, wie sie es schaffte, in dieser Situation nebenbei vier Kinder großzuziehen. Mein Vater sagt dazu:

„Sie hat, um das alles zu vereinbaren, viel – auch nachts – gearbeitet, immer nur kurz geschlafen und sich um uns gekümmert. Das hielt sie nur durch starken Kaffeekonsum durch; sie löffelte sogar den Kaffeesatz aus! Das hätte sie neben der harten Arbeit fast die Gesundheit gekostet.“

Ihre Zuneigung zeigte sie ihren Kindern so gut wie nie. Selbst als ihr Lieblingskind, zu dem mein Vater avancierte, da er weniger Probleme machte als sein Bruder und später sogar schulisch aufstieg, bekam er mehr Schläge als Lob. Das Angebot eines kinderlosen Ehepaars, meinen Vater gegen Geld zu übernehmen, lehnte seine Mutter jedoch klar ab.

Meine Großmutter 1965.

5 Babcia Trudka Siemianowice 1965Das traditionelle Familienmodel in Oberschlesien war weitverbreitet. Selbst wenn der Mann präsent war, blieb die Frau das eigentliche Familienoberhaupt:

„Der Mann war zum Arbeiten da, aber durch das Matriarchat wurde ihm jeden Monat [...] alles abgenommen. Damit war seine Rolle erschöpft. Sein einziges Vergnügen war es, sich zu betrinken.“

Was im Leben meiner Großmutter familiär als Kuriosität galt, war, dass sie als 14-Jährige im damaligen Reichsgebiet bei Grünberg (Zielona Góra) auf „Landarbeit“ – wie die Online-Datenbank „straty.pl“ [7] verifiziert, faktisch Zwangsarbeit in der Landwirtschaft – eine wohl angenehmere Zeit als in Oberschlesien der Kriegszeit verbrachte. Das erzählte sie uns nicht nur einmal in ihrer kleinen Wohnung mit dem Taubenschlag gegenüber, in der früher bis zu sechs Familienmitglieder wohnten. Später wunderte ich mich über ihre etwas skurrile, nur durch die Kriegserfahrung verständliche Angewohnheit: Sie hatte die meisten unserer Mitbringsel aus Deutschland auf den Schränken gehamstert – einige Lebensmittel sogar lange nach dem Verfallsdatum...

7 Omas Wohnkueche Weihnachten 1998
Weihnachtszeit 1998 in Großmutters Wohnküche: Sie und ich links im Bild, rechts meine Mutter,
in der Mitte die Schwestern meines Vaters.

Bei unseren Recherchen fand mein Vater zu unserem Erstaunen heraus, dass seine Mutter nicht in durchgehend die polnische Staatsangehörigkeit besessen hat, sondern ab einem noch unbekannten Zeitpunkt auch zur Kriegszeit in der Gruppe 4 der Deutschen Volksliste – also ohne Möglichkeit des Ausweiserhalts – gelistet wurde. Diese vermutlich wie bei vielen Menschen in Oberschlesien nicht freiwillig erfolgte Eintragung war sicherlich pragmatisch motiviert und schützte sie und die ganze Familie letztlich vor Repressalien oder gar Lebensgefahr.[8]

Zur Fortsetzung 



[1] Oberschlesien ist das Jahresthema 2021 des Deutschen Polen-Instituts. S. https://www.deutsches-polen-institut.de/jahresthema/.

[2] Mein Vater sprach auf Polnisch von „Śląsk“ / „śląski“ etc. (dt.: Schlesien, schlesisch etc.), da der Begriff „Schlesien“ vor allem durch Oberschlesier:innen synonym mit „Oberschlesien“ verwendet wird.

[4] Vgl. Kaczmarek, Ryszard (2010): Polacy w Wehrmachcie [Polen in der Wehrmacht], S. 54.

[6] 2020 hat der polnische Sejm die sog. „oberschlesische Tragödie“ zum 75. Jahrestag mit einem Beschluss gewürdigt: https://www.sejm.gov.pl/sejm9.nsf/komunikat.xsp?documentId=877504676ADCFD4FC12584F80070B3CE.

[8] Vgl. Kaczmarek, R. (2010), S. 54.