30.07.2020 - Politik, Kultur

Die Istanbul-Konvention: Ein Trojanisches Pferd vor den Toren Warschaus?

Blog Ziobro

Was ist passiert?

In der vergangenen Woche am 25. Juli überraschte Zbigniew Ziobro, polnischer Justizminister und Vorsitzender der Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska), mit der Ankündigung, den Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention beantragen zu wollen. Die Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Am Montag dieser Woche stellte Ziobro schließlich einen entsprechenden formellen Antrag beim polnischen Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik.

Was ist die Istanbul-Konvention?

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, besser bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgehandelter völkerrechtlicher Vertrag, der am 1. August 2014 in Kraft trat. Die Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, die Gleichstellung der Geschlechter in ihren Verfassungen und Rechtssystemen zu verankern. Bis heute haben 46 Staaten die Vereinbarung unterzeichnet, in 34 Staaten ist sie bereits ratifiziert worden. Das polnische Parlament ratifizierte die Istanbul-Konvention im Jahr 2015, noch unter der Regierung der Bürgerplattform, die heute in der Opposition ist. Zu den Staaten, die die Konvention zwar unterzeichneten, aber bislang nicht ratifiziert haben, gehören Bulgarien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Großbritannien, die Slowakei, Tschechien, Ungarn und die Ukraine. Hätte Ziobros Vorstoß Erfolg, wäre Polen der erste Unterzeichnerstaat, der sich von dem Übereinkommen wieder zurückzieht.

Wie wird der Schritt des Justizministeriums begründet?

Der Justizminister verweist darauf, dass es sich bei dem Austritt aus der Istanbul-Konvention um ein langjähriges Wahlversprechen handle, das man nun einzulösen gedenke. Es sei vor allem „der ideologische Charakter“ der Konvention, der ihn zu diesem Schritt bewogen hätte. Zwar stimme er als Justizminister mit vielen Zielen des Abkommens überein, allerdings gewähre das polnische Recht den Opfern von häuslicher Gewalt einen weitaus besseren Schutz als es die Istanbul-Konvention könne. Ziobro zufolge garantiere Polen die „höchsten Standards in Europa, was den Schutz von Frauen und Opfern von Gewalt betreffe“, und zwar „ohne Ideologie“. Ganz anders sehe es im Fall der Istanbul-Konvention aus. Hier verberge sich eine „ideologische Schicht“, die den Interessen von Frauen und Familien entgegenstehe, da sie auf einer Vorstellung von Geschlecht als sozial-kultureller Konstruktion (und nicht als biologischer Tatsache) aufbaue, was die polnische Tradition und Kultur in Frage stelle. In der Folge sehe die Konvention die Ursachen von häuslicher Gewalt vor allem in traditionellen Werten, Familie, Kultur und Religion begründet und lasse andere Ursachen wie Alkoholismus und Drogensucht völlig außer Acht. Bereits 2015, damals noch in der Opposition, hatte Ziobro das Abkommen als „eine feministische Erfindung und ein Werk, das eine Schwulen- und Feministinnen-Ideologie begründen soll“, bezeichnet. Die Konvention sei letztlich nicht notwendig, „dass man Frauen nicht schlagen darf, kann man im Evangelium nachlesen.“

Für seinen neuen Vorstoß erhielt Justizminister Ziobro Unterstützung, sowohl aus der eigenen Partei als auch seitens der Regierungspartner von Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Porozumienie. Der stellvertretende Justizminister Marcin Romanowski etwa erklärte, die Istanbul-Konvention beschränke „das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäß der eigenen Weltanschauung und Religion sowie des eigenen Wertesystems zu erziehen“. Durch die Unterzeichnung der Konvention habe die damalige polnische Regierung „ein linkes Trojanisches Pferd in unser Rechtssystem eingeführt“.

Was steckt hinter Ziobros Initiative?

Der jüngste Vorstoß von Justizminister Ziobro ist vor dem Hintergrund des Machtgerangels innerhalb der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten zu sehen. Aus den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2019 gingen die beiden Juniorpartner gestärkt hervor. Während die Partei Porozumienie von Jarosław Gowin auf 18 Mandate kam, konnte Ziobros Solidarisches Polen gar 19 Sitzen auf sich vereinigen. Die PiS ist mit 198 von insgesamt 460 Parlamentssitzen auf beide Partner angewiesen, verlöre sie doch andernfalls die Mehrheit im polnischen Unterhaus. Das veränderte Kräfteverhältnis zeigte sich beispielsweise bei der Auseinandersetzung um den Termin für die Präsidentschaftswahlen. Während PiS-Chef Jarosław Kaczyński vehement für die Beibehaltung des ursprünglichen Wahltermins am 10. Mai plädierte, sprach sich der Porozumienie-Vorsitzende und damalige Vizepremier Gowin ebenso entschieden für eine Verschiebung der Wahl aus (siehe auch DPI-Blog #6). Letzten Endes einigten sich die beiden Parteispitzen auf eine Kompromisslösung und die Wahlen wurden de facto auf den 28. Juni verschoben.

Die Partei Solidarisches Polen, der Ziobro vorsteht, deckt politisch den rechten Rand in der nationalkonservativen Regierungskoalition ab. Daher ist auch kaum überraschend, dass Ziobro für seinen Vorstoß ein Thema aufgriff, das der Präsidentschaftskandidat der rechtsradikalen Konfederacja, Krzysztof Bosak, im Wahlkampf erneut in den Vordergrund gerückt hatte. Bosak hatte die Istanbul-Konvention damals als „Realisierung des Programms der Linken und der Feminismus-Lobby“ bezeichnet. Da beide Parteien bisweilen um das gleiche Elektorat kämpfen, ist Ziobros Initiative nicht zuletzt als Versuch zu werten, den eigenen Führungsanspruch auf der politisch äußersten Rechten zu untermauern. Zudem gilt es sich für nächste Kabinettsumbildung, die für September erwartet wird, in Position zu bringen. Neben personellen Änderungen wird auch eine Verringerung der Anzahl der Ministerien diskutiert. Dies träfe vor allem die beiden Juniorpartner hart, die jeweils zwei Minister*innen stellen und sich folglich diesem Vorhaben entgegenstellen. Mit dem beantragten Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention hat Ziobro ein Thema gesetzt, das Premierminister Mateusz Morawiecki, einem politischen Rivalen Ziobros, und PiS-Chef Jarosław Kaczyński unter Zugzwang setzt. Dabei sieht es so aus, als habe die PiS ihrem Koalitionspartner eine unfreiwillige Steilvorlage gegeben. Bereits am 17. Juli sprach sich Familienministerin Marlena Maląg beim katholischen Fernsehsender TV Trwam für einen Rückzug Polens aus dem Istanbul-Abkommen aus. Die PiS-Politikerin ging offenbar fälschlicherweise davon aus, dass der Rückzug offizielle Regierungsposition sei.

Wie fallen die Reaktionen bislang aus?

Die Kanzlei des Premierministers sah sich in dieser Situation zu einem Dementi veranlasst. Sowohl der Leiter der Kanzlei, Michał Dworczyk, als auch der Pressesprecher der Regierung, Piotr Müller, versicherten, dass derzeit noch keinerlei Entscheidung über einen Verbleib Polen in der Konvention gefallen sei und hierüber voraussichtlich erst im September entschieden werde.

In Warschau kam es am vergangenen Freitag zu zivilgesellschaftlichen Protesten gegen den beabsichtigten Austritt aus dem Abkommen. Rund 2000 Demonstrant*innen versammelten sich vor dem Familienministerium und dem Sitz von Ordo Iuris, einer ultrakonservativen Juristenvereinigung, die die Kampagne in Polen für den Austritt aus der Istanbul-Konvention anführt. Kritik kam auch aus den Reihen der politischen Opposition in Polen. Der Präsidentschaftskandidat und Stadtpräsident von Warschau Rafał Trzaskowski sieht den Vorstoß Ziobros als Skandal, da dieser erneut Frauenrechte in Frage stelle anstatt die Frauen in Polen zu schützen. Kritik kam auch aus den Reihen der Linken und von Seiten des Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia. Adam Bodnar, Beauftragter für Bürgerrechte, sieht die Debatte als Machtprobe, sowohl zwischen Regierung und Opposition als auch zwischen verschiedenen Kräften innerhalb des Regierungslagers. Mit einem Rückzug aus dem Abkommen würde sich Polen international der Lächerlichkeit preisgeben, so Bodnar.

Die internationalen Reaktionen sehen einen möglichen Austritt Polen aus der Istanbul-Konvention äußerst kritisch. „Ein Rückzug aus der Istanbul-Konvention wäre höchst bedauerlich und ein großer Rückschritt beim Schutz von Frauen vor Gewalt in Europa“, sagte etwa die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejčinović Burić. Auch die deutsche Europaparlamentarierin Terry Reintke von den Grünen übte scharfe Kritik an der polnischen Regierung. Aus ihrer Sicht sei die Debatte Teil des Bemühens, „die Freiheiten und Rechte von Frauen und LGBT zurückzudrehen“. Der belgische liberale Europaabgeordnete Guy Verhofstadt bezeichnete den Vorstoß als „skandalös“ und ergänzte: „Gewalt ist kein traditioneller Wert“. Der polnische Europaparlamentarier Andrzej Halicki von der oppositionellen Bürgerplattform argumentierte, dass die Debatte über einen Rückzug aus dem Abkommen „die polnische Regierung in das allerschlechteste Licht rücke“.

Wie geht es weiter?

Der formelle Antrag ist zwar vom Justizministerium eingereicht worden, gleichzeitig machte das Lager von Premierminister Mateusz Morawiecki deutlich, dass mit einem schnellen Austritt nicht zu rechnen sein wird. Offensichtlich ist man von dem Vorstoß Ziobros überrumpelt worden. Der PiS dürfte es zunächst vor allem darum gehen, Zeit zu gewinnen. Dass sich Ziobro hiermit zufriedengibt, scheint mehr als fraglich. Eher dürfte er versuchen, die Debatte am Köcheln zu halten, um so weiter Druck auf Morawiecki und Kaczyński auszuüben, die die anvisierte Regierungsbildung nutzen wollten, um die Macht ihrer beiden Koalitionspartner zu beschneiden. Am Ende wird es wohl auf einen politischen Deal innerhalb des Regierungslagers hinauslaufen. Der Streit macht vor allem eines deutlich: Angesichts der aktuellen Sitzverteilung im polnischen Parlament sieht sich Kaczyńskis PiS mitunter zu Zugeständnissen gegenüber den kleineren Koalitionspartnern gezwungen. Es scheint, dass derzeit hier, und weniger bei der politischen Opposition im Parlament, den Demonstrierenden auf der Straße und den Institutionen der Europäischen Union die größten Herausforderungen für die Politik der PiS zu erwarten sind.