12.07.2021 - Erinnerungskultur, Gesellschaft , Geschichte, Kultur

Fremd und doch zu Hause. Oberschlesien als persönlicher Erinnerungsort

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Vorbemerkung: Im Rahmen des DPI-Jahresthemas Oberschlesien schreiben DPI-Mitarbeiter über ihre persönlichen Bezüge oder Erfahrungen mit dieser Region.

 Als der Journalist Bronisław Tumiłowicz am 24. Juni 1989, also kurz nach den ersten freien Wahlen in Polen, einen Beitrag in der Wochenzeitung „Polityka“ veröffentlichte unter dem Titel „Deutsche bei uns – es gibt sie!“, war die Aufregung groß. Bis 1989 gingen die meisten Polen davon aus, dass es keine deutsche Minderheit mehr in Polen gäbe. Sie wurde im Kommunismus totgeschwiegen, nachdem sie nach 1947 insbesondere in Oberschlesien einer radikalen Polonisierung unterzogen worden war. Jetzt, nach dem Fall des Kommunismus und einem damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Wandel in Polen, war der Weg frei, die deutsche Minderheit in Polen neu zu reanimieren. Oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben war. Vor allem ging es darum, die deutsche Minderheit durch die Vermittlung ihrer Muttersprache wieder sichtbar zu machen und ihr ein Identifikationsmerkmal zurückzugeben. Der deutsch-polnische Vertrag vom 17. Juni 1991 fixierte dieses Ziel auch juristisch in Worte. Die Frage war nur, ob die Zeit reichen würde, die vor allem bei der älteren Generation Oberschlesiens noch vorhandenen Deutsch-Sprachkenntnisse an die jüngere Generationen weiterzugeben. Und wie schnell das Bildungssystem in Oberschlesien wieder für den Neueinzug der deutschen Sprache umgerüstet werden konnte, da der Deutschunterricht zwischen 1945 bis 1989 auf allen Ebenen in Oberschlesien verboten war. Viele Einrichtungen aus Deutschland unterstützten dieses Unterfangen, schickten Deutschlehrer, Sprachanimateure und Sprachassistenten für deutsches Radio und Fernsehen in die Region. Die Aufgabe bestand darin, die deutsche Muttersprache mit den Mitteln des Fremdsprachenunterrichts wieder zu reanimieren. Ein schwieriges Unterfangen.

Ich studierte anfangs der 1990er Jahre Germanistik, Ostslawistik und Politologie an der Universität Regensburg. Die Geschichte meiner Eltern, die aus Oberschlesien stammten, nach 1945 polonisiert wurden und Mitte der 1950er Jahre nach Deutschland auswanderten, hatte für mich und meine Brüder keine größere Relevanz. Unsere Eltern erzählten wenig darüber, und wir interessierten uns wenig dafür. Der Name dieser Region war in unseren Köpfen mit keinen Inhalten verbunden. Außer eben, dass unsere Eltern von dort kamen.

Als ich 1993 ein Thema für meine Magisterarbeit in russischer Philologie suchte, fing mein Vater eines Abends an, mir davon zu erzählen, wie sie als deutsche Kinder plötzlich die deutsche Sprache gegen Androhung von Strafe nicht mehr verwenden durften. Nicht privat, und schon gar nicht in der Schule oder Öffentlichkeit. Es waren damals die aus Ostpolen geflohenen Lehrerinnen und Lehrer, die den in Oberschlesien verbliebenen Kindern die polnische Sprache in der Schule beibringen mussten. Sie taten es mit viel Liebe und Verständnis, wie mein Vater rückblickend erzählte, weil sie selbst quasi Vertriebene waren, und deshalb Verständnis hatten für die fatale Situation der deutschen Kinder. Mein Vater, der in Leschnitz aufgewachsen war, hatte sich immer gewünscht, dass irgendwann mal ihnen zu Ehren ein Denkmal in Oberschlesien entstünde. Aus Dankbarkeit für die Hilfe in diesen schwierigen Zeiten.

1000 24 neuDas Gespräch mit meinem Vater an diesem Abend hat mein Leben verändert. Verändert deshalb, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie sich das Sprechen einer Sprache verbieten ließe. Ich bohrte nach. Mit welchen Mittel? Strafzetteln? Was unglaublich schien, war Realität. Zumindest bis zum Jahr 1950, als die Existenz einer deutschen Minderheit in Oberschlesien für offiziell beendet erklärt wurde und daher auch keine offizielle Bestrafung mehr möglich war. Wer danach des Deutschtums bezichtigt wurde, dem stellte man das warme Wasser ab, oder er musste besonders lang beim Kauf eines Autos warten. Und jetzt nach dem Systemwechsel 1989? Wollte man diesen Verlust wieder gutmachen? Auf welche Weise? Meine Neugier war geweckt und ich beschloss, meine Magisterarbeit über die Wiedereinführung der deutschen Sprache in Oberschlesien nach 1990 zu schreiben. Da hierzu fast alle Quellen auch auf Deutsch vorlagen, konnte ich meine nicht vorhandenen Polnisch-Kenntnisse erst einmal verschmerzen. Erste Reisen nach Oberschlesien waren die Folge, vor allem nach Oppeln, in die Heimatstadt meiner Mutter. Es waren Schulfreunde oder Bekannte meines Vaters, wie der damalige deutsche Abgeordnete im polnischen Sejm, Helmut Pazdzior aus Leschnitz, oder die Senatorin Dorota Simonides, die mir die Türen in die Archive in Kattowitz und Warschau öffneten. Oder Bischof Nossol, der mir die Kirchenarchive aufschloss, und mir die Schlüssel zur „Sprache des Herzens“, wie Nossol die deutsche Sprache in Oberschlesien nannte, in die Hand gab.  Mag01 2 0021Die Beschäftigung mit dem Thema der deutschen Sprache in Oberschlesien wurde unweigerlich auch zur Beschäftigung mit der Geschichte meiner Eltern. Wo lebten sie damals in Oppeln und Leschnitz? Wie lebten sie damals? Wie gingen sie mit der Situation um? Und vor allem: wie gingen meine Großeltern damit um?

Es gab für mich kein Zurück mehr zu russischen Philologie. Nach dem Studium in Regenburg ging ich 1995 als Dozent für die deutsche Sprache an die Oppelner Universität, lerne dort Polnisch und verfasste danach meine Doktorarbeit zur Geschichte der deutschen Sprache in Oberschlesien. Ich geriet in den Strudel aufregender 1990er Jahre, die in Oberschlesien geprägt waren von der Frage, wie man die deutsche Minderheit neu aufstellen kann, wie sie die neugewonnenen Rechte in die Praxis umsetzen, ihre vom Verlust bedrohte Identität ins nächste Jahrtausend retten und – vor allem – an die junge Generation vermitteln kann. Deutsches Radio, deutsches Fernsehen, deutsche Zeitungen etablierten sich ebenso nach und nach wie zweisprachige Ortsschilder. Die Satellitenschüsseln, die bereits in den 1980er Jahren als „schlesische Ohren“ die Häuser zierten, vermehrten sich sichtbar. Und je mehr Zeit ich in Oppeln verbrachte und die Geschichte meiner Familie kennenlernte, umso stärker veränderte sich auch meine eigene Identität. Mich beschäftigte die Frage, welche Identität jemand hat, dessen Eltern wie meine als Deutsche in Oberschlesien aufwuchsen, zwangsweise zu Polen polonisiert wurden, dann in den 1950er Jahren nach Niedersachsen und Bayern übersiedelten. Jemand, der wie ich in Bayern geboren wurde, dort aufwuchs, und der plötzlich feststellt, dass er nicht aus Zufall der bayerischen Sprache in keiner Weise mächtig ist. Bei dem sich auf dem Esstisch der Mutter deutsche, bayerische, oberschlesische und polnische Küche mit einer Selbstverständlichkeit mischten, die erst dann auffällt, wenn man den berühmten Schritt zur Seite tritt und plötzlich anfängt, über Streuselkuchen zum Kaffee oder Forelle (Karpfen schmeckte meinen Eltern nicht) an Weihnachten nachzudenken.

Oppeln und Oberschlesien wurden über die Jahre zu einem spätentwickelten Teil meiner Identität. Noch immer reise ich regelmäßig dorthin. Und immer, wenn ich in Oppeln bin, besuche ich auch das Grab meiner Urgroßmutter, die 1958, kurz vor der Umsiedlung, noch in Polen gestorben war. Aus Protest, wie meine Mutter schmunzelnd zu sagen pflegte. Manchmal stehe ich mit ganzen Reisegruppen an diesem Grab und erzähle meine oberschlesische Geschichte. Stellvertretend für so viele meiner Generation, die zu lange zu wenig gefragt haben, was sich hinter den Lebensläufen ihrer Eltern verbirgt. Dann kommt fast immer, unweigerlich, die Frage: Und, als was fühlen Sie sich? Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Später habe ich sie an meinen schon alten Vater weitergegeben. Ich fragte ihn, was er denn als seine Heimat empfinde. Er antwortete mir damals: Regensburg. Mich hat die Antwort überrascht, und ich fragte nach. Ist die Heimat nicht da, wo man geboren, aufgewachsen ist als Kind? Da meinte er nur: Heimat hat man nicht, Heimat baut man sich.

1025Dieser Satz ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Bis heute suche ich die Antwort auf die Frage, ob Heimat ein Geschenk, oder eine Aufgabe ist. Eine Tatsache, oder ein Gefühl. Natürlich würde ich nie behaupten, das Oberschlesien meine Heimat ist. Aber immer wenn ich dort bin, durch Oppeln oder Leschnitz spaziere, oder Lesungen aus meinen Büchern über Polen und Oberschlesien halte, klopft die Region mit dem Kreuz vom Grab meiner Großmutter an mein Herz und erinnert mich, dass auch die Geschichte der Eltern Einfluss darauf hat, wie man sich selbst definiert. Und so ist mein „Ich“ ein Vielschichtiges geworden. Ein deutsch-polnisch-bayerisch-oberschlesisches. Angenehm national-diffus. Und ehrlich. Weil nie eindeutig.

 

 

Auch für meinen Vater, der im Dezember 2020 verstorben ist, veränderte sich in den letzten Jahren seines Lebens sein Verhältnis zur Frage der Heimat ein wenig. Auch zu Oberschlesien und zur dort seit 1990 lebendigen deutschen Minderheit. Irgendwann fing er doch an, noch zu den Heimattreffen der Minderheit nach Leschnitz zu reisen, dort mit alten Freunden und Bekannten das Gespräch zu suchen, beeindruckt von den vielfältigen Aktivitäten, die sich seit der Anerkennung der Minderheit dort entwickelt haben. Auch wenn er von Regensburg als Heimat nicht abrückte, so kam ihm seine Herkunft aus Oberschlesien doch stärker ins Bewusstsein. Vielleicht wurde Heimat am Ende seines Lebens auch für ihn ein vielschichtiges Gefühl, das nicht eindeutig fixierbar und benennbar ist. So wie bei mir. Das Alter verändert den Blick zurück. Ständig.

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Wir Kinder

Wir Kinder hören nicht zu
wenn die Alten uns Geschichten
aus ihrem Leben erzählen

ja, ihr Omas und Opas
damals war damals
heute ist heute
versteht uns doch

erst wenn sie nicht mehr erzählen
und wir keine Kinder mehr sind
kommen wir mit unseren Fragen
an ihre Gräber