13.12.2022 - Geschichte, Gesellschaft , Kultur

Fußball über alles! Eine Kindheit in Oberschlesien

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Aus Anlass der Fußball-Ausstellung „Gol! Polens Fußball schreibt Geschichten“ möchte ich ein paar Worte über meine Kindheit im Schatten des polnischen Fußballs schreiben, als die polnische Nationalmannschaft zwischen 1972 und 1982 ihre größten Erfolge feierte. Die Erwartung, dass ich mich als Kind für Deyna, Lato, Gadocha und Co. begeisterte, muss hier allerdings relativiert werden.

Denn dem war nicht ganz so. Eine Kindheit in Oberschlesien und dazu auch noch unter „echten“ Oberschlesiern hatte andere Prägungen als die in anderen Teilen Nachkriegspolens. Über die Gründe könnte man lange Vorträge halten, wichtig an dieser Stelle ist festzuhalten, dass die von mir damals wahrgenommene „Gemeinschaft der Oberschlesier“ (zumindest im Oppelner Land) trotz starker Polonisierung und einer an den Tag gelegten antideutschen Haltung der sie umgebenden „polnischen Gesellschaft“ (Staat, Schule, Jugendorganisation, Kirche, Armee, Arbeitsstelle) ja durch und durch pro-deutsch geprägt war. Dazu hat u.a. auch der deutsche Fußball beigetragen, war die Sportdisziplin eben auch ein Grund für einen heimlichen Stolz der Oberschlesier angesichts westdeutscher Erfolge und polnischer Misere in dieser Disziplin. Zumindest so war die Wahrnehmung bis zum polnischen Olympia-Sieg 1972 in München, dem berühmten Spiel gegen England in Wembley am 17. Oktober 1973 sowie der darauf folgenden Weltmeisterschaft.

Die Hinwendung zur deutschen Nationalelf war sozusagen „natürlich gegeben“, waren doch viele Menschen in meiner Umgebung mit westdeutschen Gütern von ihrer Verwandtschaft gesegnet, die unsere Welt bunt(er) machten, was angesichts des allgegenwärtigen „Grau“ im kommunistischen Polen allein schon ein Riesengewinn in Leben eines jungen Menschen war, der (auch) nach ästhetischen Eindrücken lechzte. Und so befanden sich in den Paketen aus Deutschland Geschenke, die einen Bezug zum bundesdeutschen oder zum Weltfußball hatten, etwa Spielkarten-Quartetts, WM-Bücher, aktuelle „kicker“-Ausgaben oder Schallplatten mit Fußball-Liedern. Viele Jungen wie ich wünschten sich von der westdeutschen Verwandtschaft Sprengler-Schokoladen, in denen es Olympia- bzw. WM-Bildchen gab, die man sammelte und dann in ein Album einkleben konnte. Es muss damals viele Sprengler-Schokoladen in den Paketen nach Polen gegeben haben, denn es brach ein regelrechtes Sammel-Fieber aus, mit Tauschbörsen und vielem anderen mehr. Noch höher im Kurs standen ganze WM-Alben, z.B. von Dieter Kürten oder Ernst Huberty, auch wenn nur die allerwenigsten in meiner Generation Deutsch lesen konnten. Und ganz überragend waren die Fußballspieler, die es im „kicker“ zum Ausschneiden gab. Man konnte sie dann lebensgroß wie eine Tapete an die Wand kleben. Schade nur, wenn bei Breitner oder Netzer dann die Schulter oder das rechte Bein fehlte, weil jemand vergessen hat, eine Ausgabe des „kicker“ zu kaufen. Alles, was mit Fußball zu tun hatte, war „geil“ – T-Shirts mit den WM-Maskottchen Tip und Top, verschiedene Fanartikel, WM-Briefmarken und -Postkarten, „echte“ Adidas-Schuhe (in Polen heißen Sportschuhe allgemein „adidasy“, oder später auch ebenso echte „korki“ (Fußballschuhe mit Noppen) – all das war ein Traum.

gol plakat 04In den westdeutschen Medien waren natürlich Beckenbauer, Breitner, Netzer, Müller & Co. abgebildet und an sie waren unsere Sehnsüchte gerichtet. Polnische Sport-Zeitschriften waren damals meistens auf billigem Zeitungspapier gedruckt, in der Regel schwarz-weiß, die Bilder wirkten alt und verschwommen. Sie konnten mit der „West-Ware“ nicht konkurrieren, allerdings war die Berichterstattung super und manchmal wurden auch dort Bilder über Spieler, Mannschaften und Austragungsorte abgedruckt, was eine gewisse „Öffnung zur Welt“ bedeutete. Polen modernisierte sich in den 1970ern schnell (auf Pump), leistete sich ein zweites TV-Programm mit viel Unterhaltung und Sport (seit 1970), bald kam auch das partielle Farbfernsehen (seit 1971). Allerdings hatten nur wenige einen entsprechenden Farbfernseher – in der Regel war es ein „Rubin“ – ein massives und schweres Gerät aus sowjetischer Produktion, das zur Implosion neigte.

Auch die polnischen Print-Medien wurden mit der Zeit besser, vor allem im Zuge der polnischen Qualifikation zur WM 1974. Damals gab es Sonderausgaben des „Sportowiec“ mit allen teilnehmenden Mannschaften, wo die Spieler einzeln vorgestellt wurden, und auch Fotos aller deutschen Fußballstadien, in denen die WM stattfinden sollte. Auch die polnische Mannschaft sang ein WM-Song, was ich vorher nur aus Deutschland kannte. Der Schlager-Star Andrzej Dąbrowski trällerte „A ty sie bracie nie denerwuj, tam Lubański gra!” (Mensch, reg dich ab, da spielt doch Lubański!) und die polnischen Spieler sangen mit, dazu gab es sogar ein gut gemachtes Video im Fernsehen. Zehn Jahre später gab es für den „Mundial“ in Spanien 1982 einen weiteren Song, „Entliczek, pentliczek co zrobi Piechniczek“, nunmehr allerdings ohne Spielerbeteiligung, aber das war die Zeit des Kriegsrechts und das Land hatte anderes zu bewältigen, keinem Spieler war offensichtlich danach, in einer solchen Zeit zu singen.

Eine Brücke von deutschen zum polnischen Fußball stellte für ein oberschlesisches Kind eine Mannschaft dar, wie es sie nur einmal in Polen gab. Górnik Zabrze war dort seit Mitte der 1960er Jahre das Maß aller Dinge. Zabrze, die am wenigsten polonisierte Stadt im Kohle-Revier[1], hatte eine Mannschaft, in der viele Oberschlesier spielten und die seit 1967 beachtliche internationale Erfolge feierte. Der größte Erfolg, der 1969-1970 ganz Polen elektrisierte, war das Finale des Pokals der Pokalsieger, wo Górnik in Wien dem Weltklasse-Klub Manchester City 1:2 unterlag. Oberschlesier wie Hubert Kostka, Zygfryd Szoltysik, Alojzy Deja, Jan Banaś waren Klasse! Auf jeden Fall hatten sie uns damals begeistert. Aber der beste war Włodzimierz Lubański (das ist eine andere Geschichte, die auch einmal erzählt werden muss).

Die polnische Teilnahme an der WM 1974 – das ist eine Geschichte, die jeder Pole kennt. „Górskis Adler“ (Orły Górskiego) wurde der Kader damals nach dem Trainer Kazimierz Górski genannt. Wie aus dem Nichts – in der Qualifikation zur EM 1972 zahlten die Polen krasses Lehrgeld bei den Spielen gegen Deutschland und Bulgarien – spielten die Polen Weltklasse. Alleine die beiden Spiele gegen den Weltmeister von 1966 – England: in Chorzów am 6. Juni 1973 und das berühmte Spiel am 17. Oktober 1973 in Wembley – zeugen von unheimlichem Kampfgeist, aber auch von Tempo, Technik, Ideenreichtum und Finesse. In Chorzów schossen Banaś (oder Gadocha) und Lubański – beide durften dann bei der WM nicht dabei sein – Pech![2] In Deutschland dann waren andere am Zug – Lato, Deyna, Szarmach, Gadocha, nicht zu vergessen der „Held von Wembley“ Jan Domarski. Aber der echte Held war der Torwart Jan Tomaszewski, der „Mann, der England stoppte“, eine Sensation, denn die Engländer waren (gefühlt) 95% der Zeit im Ballbesitz und gaben Hunderte von Schüssen ab, die Tomaszewski und die polnische Abwehr souverän parierten.

Zu einer denkwürdigen Partie kam es dann bei der „Wasserschlacht“ von Frankfurt (mecz na wodzie) am 3. Juli 1974, von der sowohl für Deutschland wie für Polen alles weitere bei der WM abhing – alles, d.h. der Einzug ins Finale gegen die Niederlande, die den Weltmeister Brasilien in die Schranken wiesen. Dass das Spiel überhaupt stattfand – auf einem Wasserspielfeld –, war schon kritikwürdig genug. Oft wurde behauptet, die Polen wären die bessere Mannschaft gewesen, Deutschland habe nur Glück und 80 Tausend Zuschauer hinter sich gehabt. Polen belegte bei dem Turnier schließlich den 3. Platz, eine Sensation! Danach kamen wieder magere Jahre für den polnischen Fußball, bis auf die WM 1982 in Spanien, wo es Polen erneut gelang, den 3. Platz zu erreichen. Die deutsch-polnische Fußball-Verflechtung ging allerdings weiter: Die in den 1980er Jahren als Kinder nach Deutschland emigrierten Oberschlesier Miroslav Klose und Lukas Podolski waren lange Zeit Garanten für deutsche Erfolge, Robert Lewandowski spielte lange Zeit in Bayern München und Podolskis lange Karriere geht gerade zu Ende in den Farben des Vereins … Górnik Zabrze.



[1] Dawid Smolorz: Achtung: Przybyli Krzyżacy https://wachtyrz.eu/dawid-smolorz-achtung-przybyli-krzyzacy-2/

[2] Lubański pausierte längere Zeit wegen einer früheren Verletzung, Banaś dagegen durfte wegen seiner deutschen Abstammung und einer nicht linientreuen Vorgeschichte nicht an der WM teilnehmen, s. auch den Spielfilm „Gwiazdy“ (Stars) von Jan Kidawa-Błońnski von 2017 mit Mateusz Kościukiewicz als Jan Banaś.