21.05.2021 - Geschichte, Politik, Gesellschaft , Kultur

Karl Dedecius und Darmstadt (2)

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Von Anfang an profitierte die Stadt Darmstadt von der Existenz des neuen Instituts auf der Mathildenhöhe. Die Entwicklung der politischen Situation in Polen: Die Entstehung der Solidarność-Bewegung im Sommer 1980 und die Verhängung des Kriegsrechts 1981, hielt das Interesse dem Land und seiner Literatur und Kultur in der Bundesrepublik hoch. Dedecius publizierte eine Vielzahl von Artikel zur polnischen Literatur und zu herausragenden polnischen Autoren in fast allen überregionalen deutschsprachigen Printmedien, ebenso wie in vielen regionalen (dabei sind die Zahl der Zeitungsbelege und die geografische Reichweite bis heute beeindruckend, auch Zeitungen aus Aurich, Freilassing oder dem schweizerischen St. Gallen waren regelmäßig dabei!). Gleichzeitig waren die ersten Veröffentlichungen des Instituts im Rahmen der „Polnischen Bibliothek“ im deutschen Feuilleton wie in den Kulturredaktionen der Rundfunkanstalten präsent. Mehrere Bände der von der Robert Bosch Stiftung geförderten und vom Suhrkamp-Verlag herausgegebenen Reihe wurden ausgezeichnet. Und an der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Czesław Miłosz im Jahr 1980 hatten auch die deutschsprachigen Übersetzungen von Karl Dedecius ihren Anteil.

Eine umtriebige Stadtmarketing-Gesellschaft hätte viel Geld ausgeben müssen, um Darmstadt in ganz Deutschland, bald auch in Polen und in anderen Ländern derart bekannt zu machen. So konnte Dedecius die großzügige Unterstützung der Stadt Darmstadt, die das Haus Olbrich (seit 1997 auch das Haus Deiters) dem Institut zur Verfügung stellte, das hauseigene Kulturprogramm förderte und es bei der Verwaltung unterstützte, wenigstens symbolisch zurückzahlen.

Szymborska 1997aDankbar sind ihm die Darmstädter sicher auch dafür, dass er viele prominente Gäste nach Darmstadt holte. Zunächst waren das seine polnischen „Freunde“ - Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Verleger, Stipendiaten. Unvergessen bleibt der Besuch der späteren Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska, die am 15. April 1981 in der Darmstädter Orangerie las. Das Darmstädter Echo schrieb damals:

“Eine leise Lyrik war da zu hören, voller Melancholie, aber keineswegs resignierend, sondern skeptisch und fragend mit bohrender Sanftheit, ja fähig zu überraschender Schärfe im Nachgeschmack: Alles Flüssige, alles Überflüssige ist aus der Beobachtung destilliert. Übriggelassen wird nur das Endkristall – das Salz, wie es Dedecius präzise charakterisierte.“[1]

Es folgten Ewa Lipska, Tadeusz Różewicz, Ryszard Krynicki, Kazimierz Brandys, Adam Zagajewski (der später noch regelmäßig zu den Lyrik-Matinees in der Stadtkirche eingeladen wurde) und viele andere. Die Bibliothekarin Elżbieta Lempp war zugleich Fotografin. Den Hauptraum der Bibliothek zierte schon bald eine Galerie der bedeutendsten polnischen Gegenwarts-Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dedecius organisierte in Darmstadt erfolgreich eine Korczak-Ausstellung in der Stadtbibliothek, eine Plakatausstellung von Roman Cieślewicz in der Kunsthalle, eine Exlibris-Schau in der Hochschulbibliothek, Konzerte mit der Chopin-Gesellschaft, Polnische Filmtage im City (nicht mehr existent in der Schulstraße) und mit dem Studentischen Filmkreis an der TH. Zu den Partnern des Institut zählten weitere Darmstädter Einrichtungen: Neue Darmstädter Sezession, Europa-Union, Industrie- und Handelskammer, die Volkshochschule und viele mehr. Viele Vorhaben finanzierte die Sparkasse Darmstadt. Schließlich initiierte Dedecius auch Städtepartnerschafts-Kolloquien als Börse für westdeutsche Städte, die schon eine Partnerschaft mit Polen hatten oder erst anbahnen wollten. 

Unschätzbar bleibt allerdings die Bekanntheit Darmstadts in Polen, wo Dedecius bisweilen als der „Zauberer aus Darmstadt“ (Czarodziej z Darmstadt) bezeichnet wurde.[2] In unserem Archiv gibt es Hunderte von Artikeln und Notizen aus polnischen Medien der 1980er und 1990er Jahre, die über die Arbeit des Darmstädter Instituts nicht nur informierten, sondern oft auch über Dedecius uns seine übersetzerische und kulturpolitische Arbeit reflektierten.

Die Dichter PolensDie Existenz einer solchen Einrichtung wie das Deutsche Polen-Institut, auf die die polnische Regierung keinen Einfluss hatte, die sich aber neben der Literatur auch anderen Kulturbereichen öffnete, bewirkte unterschiedliche, in der Regel aber wohlwollende Reaktionen in Polen und in der polnischen Emigration (die Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ berichtete regelmäßig aus Darmstadt). Kontrovers diskutiert wurden allerdings die verlegerischen Akzente der „Polnischen Bibliothek“, politische Anspielungen und Verdächtigungen fanden jedoch angesichts der seriösen Sacharbeit des Instituts schnell ein Ende. Somit wurde Darmstadt in Polen für lange Zeit zu einem intellektuellen Leuchtturm auf der Karte „des anderen Deutschlands“.

Zahlreiche Gäste aus Polen oder polnische Intellektuelle aus dem Ausland attestierten dem Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe eine „heimische“ Atmosphäre und berichteten oft von der „polnischen“ Gastfreundschaft. Sprichwörtlich war der persönliche Charme des Institutsleiters, der seine Gäste regelrecht hofierte und sie durch die Museen der Mathildenhöhe führte. Der Autor und Literaturwissenschaftler Leszek Szaruga meinte gar, Darmstadt wäre in den 1980er Jahren für polnische Kulturschaffende und Literaten zur ersten Adresse im Westen geworden. Wohlgemerkt waren Kontakte damals noch oft reglementiert, die Reisefreiheit nicht „für alle“ gegeben und die polnische Währung im Westen nicht konvertierbar. Dank Dedecius und seiner Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung gelang es dem Institut, Studienreisen für bedeutende polnische Persönlichkeiten zu organisieren, fast immer waren sie dann auch zu Gast in Darmstadt. An diese Besuche können sich bis heute viele noch erinnern. Auch die aktuelle Trägerin des Karl-Dedecius-Übersetzerpreises Monika Muskała meinte 2019 bei der Preisverleihung in der Stadtkirche: „Ich habe Karl Dedecius 1991 interviewt. Als beginnende Übersetzerin bin ich nach Darmstadt gepilgert, wie zu einem Wallfahrtsort.“

Legendär kann man die zahlreichen Besuche polnischer Übersetzerinnen und Übersetzer nennen, die an den erwähnten Studienreisen teilnahmen. Auch Verleger, Lektoren, Journalisten, ja sogar Bücherliebhaber aus polnischen „Bibliophilen“-Vereinen kamen in ihren Genuss. Sie alle verdanken Dedecius unschätzbare Kontakte, die ihnen nicht selten nach dem Umsturz 1990 geholfen haben, eigene Firmen zu gründen und dabei Kooperationen mit deutschen Partnern einzugehen. Von diesen Kontakten zehrt das Institut bis heute.

Dedecius hatte von Darmstadt viel erhalten. Er hat es nie vergessen, wem er den organisatorischen und finanziellen Aufwand, der wesentlich zum Erfolg des Instituts beigetragen hat, zu verdanken hatte. Und auch die Stadt Darmstadt wusste ihn zu schätzen. Darmstadts Oberbürgermeister Peter Benz meinte zum Abschied 1997:

„Heute kann Dr. Karl Dedecius auf eine großartige Lebensleistung zurückblicken. Viele Ehrungen wurden ihm für seine „Pioniertat auf dem Gebiete der literarischen Wissensvermittlung über Polen und die Polen“ zuteil. Unter vielen Ehrentiteln hat er auch den Titel des „Botschafters der Kultur“ erhalten. Als solchen kennen und schätzen wir ihn auch in Darmstadt“.



[1] Hans-Jürgen Schneider im Darmstädter Echo am 18. April 1981

[2] Krzysztof Kuczyński, Czarodziej z Darmstadt. Rzecz o Karlu Dedeciusie, Łódź 1999