09.11.2020 - Erinnerungskultur, Geschichte, Gesellschaft

Können »polnische Spuren« auf Stolpersteinen helfen zu erinnern und zu verstehen?

Stolpersteine Header

Anlässlich des 9. November 2020 gedenken nicht nur in Deutschland, sondern weltweit Menschen der Novemberpogrome 1938 in Deutschland, deren antisemitische Gewalt an diesem Tag vor 82 Jahren gipfelte. Besonders für die Überlebenden des Holocaust ist es ein wichtiger Tag. Christoph Heubner, der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, schlägt eine Brücke von der Erinnerung in die Gegenwart: »Bis zum heutigen Tag ist für jüdische Überlebende dieser Schreckensnacht die Erinnerung an die Gleichgültigkeit der allermeisten ihrer Nachbarn das Entsetzlichste, womit sie bis heute nicht fertig geworden sind. Gerade deshalb engagieren sie sich gegen den aufflammenden antisemitischen Hass und die mörderische Gewalt, die aus ihm in Deutschland, in Österreich, in Frankreich und in anderen Ländern hervorbricht.«  

  Ein Zeichen der Erinnerung an Opfer des Holocaust und andere Opfer des Nationalsozialismus im öffentlichen Raum sind die »Stolpersteine«, kleine Gedenktafeln aus Messing, die in Gehwege eingelassen werden. Der 9. November ist für viele MensStolpersteine reinigenchen in zahlreichen Kommunen von Leipzig bis Delmenhorst ein Anlass, die Steine zu reinigen und wieder sichtbar zu machen. Aber es ist auch schon vorgekommen, dass in der Nacht zum 9. November vermehrt Steine herausgerissen wurden, wie 2012 in Greifswald.

»Stolpersteine« als Spuren

Jeder Stolperstein ist einer einzelnen Person gewidmet und wird zumeist an deren ehemaligem Wohnort verlegt. Die Menschen, denen auf diese Weise gedacht wird, wurden während des Nationalsozialismus verfolgt, oft deportiert und ermordet. Viele sind aufgrund der Verfolgung unter unbekannten Umständen gestorben oder gelten als verschollen. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Menschen, an die mit Stolpersteinen erinnert wird, wurden von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt, doch es gibt etwa auch Steine für politisch Verfolgte oder für Menschen mit Behinderung, die gefangengenommen und ermordet wurden. Auf den kleinen im Boden eingelassenen Gedenktafeln ist außer dem Namen und den Lebensdaten ein Hinweis auf das jeweilige Verfolgungsschicksal angebracht, meistens in Verbindung mit einem Ort.

Stolpersteine Pfarrei St. Bonifatius Berlin

 

 

 

Stolpersteine von Charlotte Rothschild und Georg Rothschild in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (Foto: Pfarrei St. Bonifatius Berlin)

Und so finden sich auf den Stolpersteinen sehr viele Verweise auf Orte im heutigen Polen, das im Zweiten Weltkrieg seit 1939 zu großen Teilen von Deutschland, im Osten von der Sowjetunion besetzt war. Die Deutschen errichteten und betrieben dort Konzentrationslager und Massentötungsanlagen zur Ermordung der europäischen Juden, der Sinti und Roma, und anderen. Diese Orte oder auch vorherige Zwischenstationen sind es, die häufig auf den Stolpersteinen zu lesen sind. Auf fast der Hälfte von Stolpersteinen, die beispielsweise in Frankfurt am Main zwischen 2003 und 2015 verlegt wurden, werden Orte im heutigen Polen erwähnt – auf 497 von 1.032.

Den historischen Kontext verstehen - das Schicksal der Opfer verstehen

Handelt es sich durch diese Namen, die heutige polnische Orte bezeichnen, also um polnische Spuren? Man könnte argumentieren, dass es sich um ein rein deutsches Referenzsystem handelt: Die deutschen Juden, die von hier deportiert wurden, waren meistens nicht »Fremde«, sondern deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger, kamen eben nicht »aus dem Osten«. Und die Lager und anderen Einrichtungen, in die sie verbracht und in denen sie meist ermordet wurden, wurden eben nicht nur von Deutschen betrieben, sie gehörten auch zu jenen Territorien, die vom Deutschen Reich annektiert oder von den Deutschen besetzt worden waren.

Doch die kleinen Gedenktafeln als Spuren nach Polen zu verstehen, transportiert auch eine wichtige Botschaft. Für die Menschen war es eine Verschleppung in eine fremde Umgebung. Sie aus dem Kerngebiet des Deutschen Reiches zu deportieren und in ehemaligen polnischen und anderen Gebieten zu ermorden – die arbeitsfähigen Menschen durch Arbeit für deutsche Industriebetriebe und die schwächeren unter ihnen sofort – hatte Methode. Die dadurch verstärkte oder geschaffene Distanz zum Deutschen Reich und zu den Teilen der Bevölkerung, die dort verblieben, wirkt bis in die heutige Erinnerung nach. Zugleich wurden Millionen weiterer Juden sowie ostmitteleuropäische Roma und Sinti und nichtjüdische Polinnen und Polen, sowjetische Kriegsgefangene und noch viele andere Gruppen Opfer der dort errichteten Lager und der Massentötungsanlagen.

Sich dieser Geschichte bewusst zu sein, könnte helfen, die Umstände des Leidens der Menschen, derer mit den Stolpersteinen gedacht werden soll, und die Ausmaße der Verbrechen, deren Opfer sie wurden, besser zu verstehen.   

 

 Dieser Text ist eine veränderte Version des 2019 erschienenen Artikels : Julia  Röttjer,  Können Stolpersteine polnische Spuren sein, in: Peter Oliver Loew (Hg.), Lebenspfade. Ścieżki życia. Polnische Spuren in RheinMain. Ein historisches Mosaik. Darmstadt: Deutsches Polen-Institut 2019, 224 S. [hg., unter Mitarbeit von Andrzej Kaluza und Julia Röttjer], S. 82f.

Weiterführende Literatur

Petra T. Fritsche: Stolpersteine – das Gedächtnis einer Straße. Berlin 2014.

Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main e. V.: 13. Dokumentation 2015. Frankfurt am Main 2015. http://www.stolpersteine-frankfurt.de/downloads/doku2015_web.pdf

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011.