11.06.2020 - Geschichte, Gesellschaft

Krankheiten und Krisen in der deutschen und polnischen Geschichte (1): "Krieg" gegen das Fleckfieber?

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 Viel dreht sich in diesen Tagen der "Corona-Krise", wie schon der Terminus nahelegt, um die gesellschaftlichen Folgen dieser Krankheit. Dabei wird in Deutschland wie in Polen gleichermaßen auf die weltweiten Entwicklungen geblickt, welche durch die Pandemie angestoßen worden sind oder an Dynamik gewonnen haben. Gleichwohl verengt sich der Blick allzu schnell oft wieder, etwa bei der Beurteilung der Maßnahmen der eigenen Regierung oder bei Überlegungen zu einer internationalen Solidarität. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass Effekte des Auseinanderdriftens oder Zusammenrückens der Staatengemeinschaft automatisch in Zusammenhang mit der aktuellen Krise gedacht werden können; sie müssten aktiv gewollt und betrieben werden. Historisch gesehen hängen Krankheit und Krise und ihre Wechselwirkungen ohnehin fest zusammen, auch im deutsch-polnischen Kontext. Dabei handelt es sich um eine kulturelle Dynamik, die zwei Seiten vereint: einerseits die Eigenschaften einer speziellen Infektionskrankheit, wie etwa Gefährlichkeit für Gesundheit und Leben des Menschen und Möglichkeiten der Übertragbarkeit, andererseits die Handlungsmöglichkeiten zur Eindämmung der Krankheit von hygienischen Belangen über sonstige gesellschaftliche Regeln bis zur medizinischen Behandlung. Obgleich der eine Strang als Voraussetzung für den anderen erscheinen mag, zeigt der Blick in die Geschichte doch deren Interaktion und viel mehr noch, dass beide davon überformt werden, in welchen Bildern die betroffenen Gesellschaften den Prozess fassen, wie sie darüber nachdenken, wie sie darüber sprechen.

Beim historisch motivierten Blick in die deutsch-polnischen Beziehungen lassen sich viele epidemische Erscheinungen ausmachen, deren Betrachtung als Fallbeispiele lohnt – einige davon sollen hier aufgegriffen werden: die Entwicklung eines Fleckfieber-Impfstoffs in der gerade entstandenen Zweiten Polnischen Republik in Lemberg (Lwów), die Anwendung von Fleckfieberimpfungen während des Zweiten Weltkriegs, die Cholera-Epidemie in Danzig 1831 und die Pestpogrome von 1348/49 am Rhein und ihre Folgen.

 

Seuchen in Kriegsbemalung

Eine Krankheit, die auch diskursiv aufs Engste nicht nur mit Krisen, sondern mit Kriegen verflochten war, ist das Fleckfieber. Diese Krankheit, die durch Läuse von Mensch zu Mensch übertragen wird, existierte wohl schon seit dem Altertum und trat im Mittelalter zunehmend in Europa auf, ab dem 16. Jahrhundert auch in der Neuen Welt, wie etwa 1576/77 in Mexiko mit etwa 2 Millionen Toten. Der Feldzug Napoleons gegen Russland 1812 wurde stark von einer heftigen Fleckfieberepidemie beeinflusst, ebenso der Krim-Krieg 1854–1856 und der russisch-türkische Krieg 1877/78. Auch in Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen gab es im 20. Jahrhundert viele Erkrankte und Tote, u. a. eine schwere Epidemie in Russland 1918–1922 mit 30 Millionen Fällen, davon 3 Millionen mit tödlichem Ausgang.

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Quarantäneposten vor bewachten vom Fleckfieber befallenen Zivilhäusern in Perehińsko (Westukraine, Februar 1916)

Die militärischen Bilder, die zur gedanklichen Fassung von Seuchen bemüht wurden, sind für das Fleckfieber und andere historisch gründlich untersucht worden. Das Phänomen als solches setzt sich bis in die Gegenwart[1] fort: Militärische Metaphern werden etwa aufgerufen, um Ohnmachtsgefühlen martialisch entgegenzutreten, Freiheitseinschränkungen im Innern einen größeren Rahmen zu verleihen oder Fragen nach der Herkunft von Seuchen und Schuldzuweisungen bildlich zu fassen. Ein emblematisches Beispiel war die TV-Ansprache an die Nation von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vom 16. März 2020, in der er konstatierte, man befinde sich im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Ein viel weniger prominenter Fall war die Anfang März im polnischen Staatsfernsehen TVP übertragene Landkarte, die zeigte, wie das Coronavirus aus Deutschland nach Polen eingetragen wurde – mit großen und kleinen Pfeilen, wie sie vielen aus dem Schulunterricht zur Visualisierung angreifender Armeen bekannt sind. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hingegen packte rhetorisch, ebenfalls im März 2020, die "Bazooka" nur aus zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen des Virus und behielt "Kleinwaffen" in der "Hinterhand". Belege für die Aktualisierung von historisch tradierten Ängsten, Feindbildern und Stereotypen, die mittels militarisierter Sprache verbreitet werden, ließen sich aus zahlreichen Staaten finden, darunter verstörend weit verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien.

 

Der Erste Weltkrieg, das Fleckfieber und die Anfänge der Zweiten Polnischen Republik

Während des Ersten Weltkriegs wurde das seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert politisch zergliederte und unter deutscher, österreichisch-ungarischer und russischer Herrschaft stehende polnische Territorium zu einem Hauptkriegsschauplatz. Mit der deutschen Besatzung während des Krieges kamen nicht nur das Fleckfieber, sondern auch die Deutungen der Krankheit und ihre feste Einordnung als unzivilisiert, rückständig und östlich. Dies zeigt Katharina Kreuder-Sonnen in ihrer historischen Studie über zirkulierendes bakteriologisches Wissen,[2] in der sie den mittelosteuropäischen Raum in eine globale Wissensgeschichte einordnet. Die Gefahr durch das Fleckfieber galt der deutschen Militärmacht viel mehr als ein Problem der Front im Osten als im Westen. Besonders richteten sich diese Interpretationen auch gegen orthodoxe Juden, die von Zwangsmaßnahmen durch die deutsche Besatzung ab 1915 in besonderer und unverhältnismäßiger Härte betroffen waren. Trotz der auch ansonsten getroffenen Vorkehrungen kam es in verschiedenen Orten Zentralpolens zwischen 1915 und 1917 zu Fleckfieberepidemien. Im polnischen medizinischen Diskurs wurde diese Fokussierung und Einschränkung auf die jüdische Bevölkerung ebenfalls übernommen. Im weiteren Verlauf des Krieges und gegen Ende verknüpfte und verschob sich diese Rhetorik hin zu einer festen Verbindung der Epidemie mit einer Einschleppung durch den Feind von außen, besonders wiederum aus Richtung Osten und dem gerade entstandenen Sowjetrussland, so Kreuder-Sonnen: „Die diskursive Verknüpfung von Seuche und bolschewistischer Bedrohung hatte (…) den jungen polnischen Staat als Schutzwall des ‚Westens‘ gegen Sozialismus und Fieber etabliert. (…) Seuchenbekämpfung und Staatsbildung verschränkten sich hier eng miteinander.[3]

Die Ineinssetzung mit dem Bolschewismus im polnischen Kontext hatte das Fleckfieber mit der Spanischen Grippe gemein, die von 1918 bis 1920 in drei Wellen weltweit bis zu 50 Millionen Todesopfer forderte.[4] Während diesem Virus nur wenig entgegengesetzt werden konnte, was auch und gerade die deutsche Bakteriologie erschütterte, die sich für längere Zeit fälschlicherweise an der Identifizierung eines vermeintlich schuldigen Bakteriums (!) abarbeiten sollte,[5] gab es bei der Erforschung des Fleckfiebers im selben Zeitraum bald große Fortschritte.

 

Die Entwicklung eines Fleckfieberimfpstoffs in Lemberg (Lwów)

Der in Lemberg studierte Entomologe und Histologe Rudolf Weigl, der sich in Wien in Bakteriologie weitergebildet hatte, begann zunächst in Kriegsgefangenenlagern in Tarnów und Przemyśl mit seinen Forschungen am Fleckfieber. Dort legte er die Grundlage für seine Impfstoffentwicklung, die er an der Universität Lemberg fortführte. Er konnte dabei auf viele vorangegangene Forschungen aufbauen, die nötig gewesen waren, um den Erreger verlässlich zu identifizieren, der innerhalb der Kleiderlaus für die Auslösung der Krankheit verantwortlich war. Dieser hatte schließlich vom am Hamburger Tropeninstitut beschäftigten brasilianischen Mediziner Henrique da Rocha Lima den Namen Rickettsia prowazeki erhalten, benannt nach dem US-amerikanischen Mikrobiologen Howard Taylor Ricketts und dem tschechisch-österreichischen Bakteriologen Stanislaus von Prowazek, die beide während ihrer Forschungen dem Fleckfieber erlagen, Ricketts 1910 in Mexiko und Prowazek 1915 in Cottbus.

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Rudolf Weigl im Laboratorium, Datum unbekannt

Um Filtrat für den Impfstoff zu erhalten, musste Weigl auf dem in vielen, meist in peripheren Gegenden – nämlich den Orten großer Epidemien – erworbenen und eng an Personen gebundenen Wissen aufbauen, das auch dazu diente, viele praktische Probleme zu lösen. Es galt, zunächst gesunde Läuse zu züchten, diese mittels ausgefeilter Gerätschaften zu infizieren und in kleinen fixierbaren Käfigen – die kurz zuvor von Rocha-Limas Kollegin Hilde Sikora[6] entwickelt worden waren – so zu halten, dass sie sich vom Menschen ernähren konnten ohne Gefahr der Entweichung. Die Übertragung der Krankheit erfolgte nicht durch den Biss der Läuse, sondern durch das Eintragen ihrer Ausscheidungen beim Kratzen. Trotzdem blieb die Läusefütterung durch den Menschen ein gefährliches Unterfangen, das zunächst im Selbstversuch und an Mitarbeitenden ausprobiert wurde. Auf dem Höhepunkt der Erkrankung der Läuse wurden diese getötet und aus ihrem Darm, mit einer besonders hohen Konzentration der Rickettsia, der Impfstoff hergestellt. Nach einer dreimaligen Impfung mit dem Präparat überlebten viele Probanden auch während Fleckfieberepidemien. Die Ergebnisse wurden publiziert, und viele Forscher kamen nach Lemberg, um die nötige Arbeit genau zu studieren, die im Laufe der 1930er Jahre im größeren Stil praktisch ausprobiert wurde.[7]

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Rudolf Weigls Fleckfieberimpfstoff, Ausstellungdisplay im Museum POLIN in Warschau

Literatur

Katharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin, 1885–1939. Tübingen 2018.

O. Gsell, W. Mohr (Hrsg.), Infektionskrankheiten. In vier Bänden, Bd. IV: Rickettsiosen und Protozoenkrankheiten, Berlin u. a. 1972.

Ute Caumanns, Fritz Dross, Anita Magowska (Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perpsektive / Medycyna i wojna w perspektywie historycznej, Frankfurt a. M. 2012.

Laura Spinney, 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018.



[1] Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass bei der politischen Planung der Seuchenbekämpfung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ein Befragen des bereits geschichtswissenschaftlich Erforschten mitunter hilfreich, wenn nicht gar geboten sein kann – s. dazu etwa Anthony Sheldon, Why every government department needs a resident historian, in: Prospect, 1. Mai 2020, https://www.prospectmagazine.co.uk/politics/government-department-chief-historian-whitehall-number-10-coronavirus-covid-brexit (9.6.2020). Zur Auswirkung militärischer Rhetorik vgl. u. a. Christoph Laucht , Susan T. Jackson, Soldiering a pandemic: the threat of militarized rhetoric in addressing Covid-19, in: History & Policy, 24. April 2020, http://www.historyandpolicy.org/opinion-articles/articles/soldiering-a-pandemic-the-threat-of-militarized-rhetoric-in-addressing-covid-19.

[2] Katharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin, 1885–1939. Tübingen 2018, hier und zum Folgenden S. 121–139.

[3] Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt, S. 139.

[4] Zur Spanischen Grippe s. Laura Spinney, 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018.

[6] Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt, S. 243–254.

[7] Lesław Portas, Rudolf Weigl – jego szczepionka przeciwtyfusowa a wojna / Rudolf Weigl, sein Flecktyphusimpfstoff und der Krieg, in: Ute Caumanns, Fritz Dross, Anita Magowska (Hg.), Medizin und Krieg in historischer Perpsektive / Medycyna i wojna w perspektywie historycznej, Frankfurt a. M. 2012, S. 173–187.