01.09.2020 - Erinnerungskultur, Gesellschaft , Geschichte, Politik

Putins Geschichtspolitik und polnisch-russische Kontroversen um den Beginn des Zweiten Weltkriegs

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Die polnische Stadt Wieluń nach der Bombardierung der deutschen Luftwaffe am 1. September 1939

 

Am 1. September 1939, vor 81 Jahren, begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Dass der Beginn des Zweiten Weltkriegs sich nicht aus der Geschichte eines Tages heraus verstehen lässt und dass der Hinweis auf dieses historische Ereignis nur ein bescheidener Anfang sein kann, um sich mit der komplexen Geschichte dieses Krieges zu beschäftigen, ist eine Binsenweisheit. Doch dass es an der ursächlichen Täter-Opfer-Konstellation als solche, bei aller Sensibilität des Themas, Zweifel geben könne, mögen viele für ausgeschlossen halten. Doch seit einiger Zeit erreichen Beiträge die öffentliche Debatte, die anzeigen, dass über den Krieg ein Krieg tobt, ein in Kreisen von Fachhistoriker*innen länger bekannter sogenannter memory war. Der 1. September 2020 kann also Anlass bieten, in aller Kürze und mit Konzentration auf Polen zu erklären, wie sich dieser Streit seit dem Begehen des letzten Jahrestages entwickelt hat.

Als Highlight im kurzen Wahlkampf, den er schlussendlich knapp für sich entscheiden sollte, reiste der polnische Präsident Andrzej Duda am 24. Juni 2020, wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, nach Washington zu einem Treffen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Die gemeinsame Erklärung beginnt wahltaktisch nachvollziehbar mit einem Bekenntnis zu erweiterter wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Doch noch bevor die ebenfalls im nationalen Interesse äußerst hoch gehandelten Themen militärische Verbundenheit und Energiesicherheit angesprochen werden, heißt es unvermittelt am Ende des ersten Absatzes: „Ebenso werden wir uns im Kampf gegen Desinformation zusammenschließen, insbesondere im Hinblick auf historische Fakten über den Zweiten Weltkrieg.“[1] Diese Betonung der Geschichte in den außenpolitischen Beziehungen ist in der polnischen Öffentlichkeit durchaus üblich. Seit Jahren wächst etwa in den Befragungen des Deutsch-Polnischen Barometers der Anteil derjenigen Pol*innen, die der Ansicht sind, man müsse sich vornehmlich der Vergangenheit widmen, weil man sich ohne deren Aufarbeitung gar nicht Gegenwarts- und Zukunftsthemen zuwenden könne.[2]

 

Putin sucht die Schuldigen

Hintergrund für die Äußerung konkret an diesem Tag war die Nachholung der Militärparade zum 75jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs in Moskau auf dem Roten Platz, die pandemiebedingt vom 9. Mai verlegt worden war. Kurz zuvor hatte ein Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin höchstselbst umfangreich die russische Sicht auf die historische Kriegskonstellation erhellt, erschienen am 18. Juni online im konservativen US-Magazin „The National Interest“ und am 19. Juni auf der Regierungsplattform kremlin.ru sowie im Amtsblatt „Rossijskaja gazeta“.

Der Beitrag Putins greift einige bereits länger kursierende Argumente im Streit um die Deutung der Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf. Insgesamt verfestigt sich in der bereits bekannten Argumentation eine „Europäisierung“ der Schuld und eine Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts. Dazu kommt aber als neue, besondere "Zutat" eine deutliche Konzentration auf Polen als Schuldigen nicht nur für das eigene Schicksal, sondern auch für den politischen Weg in den Krieg insgesamt. Der Artikel weist die zentrale Bedeutung des Nichtangriffspakts vom 23. August 1939 und seines geheimen Zusatzprotokolls zurück, in dem die Aufteilung Polens, Litauens, Finnlands, Estland, Lettlands und Bessarabiens unter dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbart worden war. Dabei ist es unstrittig, dass dies eine unmittelbare Bedeutung für den Kriegsausbruch und langfristige Folgen für Ostmitteleuropa hatte – ohne den Pakt hätte Hitler sich zumindest auf einen Zwei-Fronten-Krieg vorbereiten müssen.[3]

Stattdessen rückt Putin in seinem Beitrag[4] das Münchener Abkommen vom 29./30. September 1938 in den Mittelpunkt. Dies ist zwar in Teilen der Geschichtswissenschaft schon länger als Grund für die Isolierung der Sowjetunion und damit als Motor zum Abschließen des Hitler-Stalin-Pakts gesehen worden. Polen aber hier eine derart zentrale Rolle zu unterstellen, wie Putin es insinuiert, ist neuartig und entbehrt belegbarer Grundlagen (zumal gar keine polnische Delegation zugegen war). Die tatsächliche Okkupation des Teschener Olsagebietes durch Polen direkt nach der deutschen Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938 (und die Besetzung weiterer Gebiete durch Ungarn) und deren Bedeutung kann nicht über die hauptsächliche Verantwortung Deutschlands für die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates hinwegtäuschen. Putins Versuch als solcher, die facettenreiche und keinesfalls schwarz-weiße Geschichte der Diplomatie der 1930er Jahre und ihrer gefährlichen appeasement-Politik gegenüber Nazideutschland von britischer, französischer, aber auch polnischer Seite argumentativ auszunutzen, ist nicht neu, sondern entspricht in großen Teilen durchaus sowjetischer Lesart. Dabei war die Sowjetunion eben keineswegs, wie dargestellt, der letzte Staat, der sich schließlich, mangels Alternativen, in defensiver Absicht auf einen "Deal" mit dem Deutschen Reich einließ, sondern sie war vielmehr recht schnell dabei und mit weitreichenden eigenen Vorstellungen. Doch die Konzentration auf Polen, das der Sowjetunion die Zusammenarbeit verweigert und damit viele Möglichkeiten genommen habe, sollte hellhörig machen. Die Behauptung, die baltischen Länder hätten sich freiwillig als Sowjetrepubliken der Sowjetunion angeschlossen, ist ebenso ein neues Element,[5] wie Wacław Radziwinowicz, ehemaliger Russland-Korrespondent der polnischen Gazeta Wyborcza, betont.

Putins Aufsatz ist lang und enthält noch eine ganze Reihe an Argumenten, die weitere komplexe Zusammenhänge berühren, aber von der Schlussfolgerung her in eine ähnliche Richtung gehen. Sie sind bereits gründlich von einschlägigen Osteuropahistoriker*innen seziert worden.[6] Ein Grund, warum auf diese Einlassung bereits mit so viel Expertise reagiert worden ist, ist dabei besonders kurios: Die Forscher*innen und Hochschullehrer*innen bekamen den Aufsatz in ihr Email-Postfach geliefert, begleitet von einen Schreiben der Russischen Botschaft, sie würden dort viel Neues erfahren, auch im Hinblick auf neu erschlossene historische Quellen: "Mit Blick darauf schlagen wir Ihnen vor, den Artikel von Wladimir Putin künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen. In jedem Fall ist ein Link auf die ursprüngliche Quelle – Webseite des Präsidenten der Russischen Föderation – obligatorisch." Einer solchen Forderung würde keine ernstzunehmende Historiker*in nachkommen, eher bietet sich der Text als Quelle zum Thema Geschichtspolitik an. Dennoch stimmt diese Grenzüberschreitung von Politik Richtung Wissenschaft, nicht die erste in dem hier skizzierten Streit um die Erinnerung, bedenklich.[7] Indes lässt das Begleitschreiben nicht im Unklaren, worum es eigentlich geht: "Der Beitrag befasst sich mit der internationalen Nachkriegsordnung und den Vorschlägen für eine weitere Kooperation zwischen führenden Ländern der Welt." Diese Nachkriegsordnung wird – ungeachtet des Kalten Kriegs – von Putin als mehr oder minder harmonisches Miteinander der Alliierten beschrieben und dessen Wiederbelebung in veränderter Form vorgeschlagen: als Wirken der fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrates im Sinne von prägenden Großmächten zum Wohl der Weltgemeinschaft.

 

Geteilte europäische Erinnerung und Geschichtspolitik

Insgesamt reiht sich der Artikel in die Erzählung der russischen Regierung ein, die baltischen Länder, die Ukraine und vor allem Polen "als reaktionär, nationalistisch und zum großen Teil auch antisemitisch hinzustellen", so der Historiker Karl Schlögel.[8] Erinnert sei hier nur an Putins drastische Äußerungen aus dem Dezember 2019 zum Antisemitismus des polnischen Botschafters in Berlin 1933–1939, Józef Lipski – ebenfalls im Zusammenhang mit einer Relativierung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts.[9] Der Konflikt eskalierte wenige Wochen später, nachdem Putin erneut den Polen eine tragende Schuld am Kriegsausbruch und an der Deportation der Juden zugewiesen hatte. Nachdem der polnische Präsident Duda auf dem offiziellen Welt-Holocaust-Forum in Yad Vashem im Januar 2020 keine Redezeit bekam und befürchtete, dass Putin selbst die Vorwürfe in seiner Rede prominent wiederholen würde, sagte Duda seine Teilnahme ab.[10]

Putins geschichtspolitischer Beitrag steht aber auch in einem größeren Zusammenhang als Reaktion auf die Geschichtspolitik der Europäischen Union. Am 19. September 2019 hat das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag zur Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas angenommen, der eine Neuorientierung der kollektiven Erinnerung in Europa an den Zweiten Weltkrieg fordert. Polen, Estland, Lettland und Litauen haben diese Entschließung entscheidend vorangebracht. Seit ihrem Beitritt 2004 haben die neuen Mitglieder daran gearbeitet, dass ihre Sicht auf die Geschichtspolitik gehört wird. Zentral dabei war und ist die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts. Im Jahr 2011 schließlich wurde der europäische Gedenktag für die Opfer der beiden durch „Staatsterror und Massenmord geprägten totalitären Systeme“ am 23. August eingerichtet. Der Jahrestag findet in Westeuropa kaum Beachtung (wie auch bisher die Entschließung von 2019). Die Historikerin Anke Hilbrenner ordnet dies in den Bedeutungszusammenhang ein, der sich aus der Kluft der Erinnerung in Westeuropa und Ostmitteleuropa ergibt hinsichtlich der Frage, inwieweit es überhaupt legitim sei, die Folgen von Nationalsozialismus und Stalinismus zu vergleichen. Das ostmitteleuropäische Gedächtnis aber, für das diese Frage zentral sei, werde durch dieses Tabu marginalisiert. Indem die ostmitteleuropäischen Diskussionen dergestalt ausgeblendet werden, ergebe sich eine unlautere "hermetische Abschottung des westlichen Geschichtsbildes gegen die ostmitteleuropäische Erfahrung mit den Massenverbrechen von Nationalsozialismus und Stalinismus zur selben Zeit"[11]. Die europäische Entschließung wurde zwei Tage nach dem 80. Jahrestag des sowjetischen Einmarschs in Polen angenommen. Aus gutem Grund steht in Deutschland weiterhin der 1. September und nicht der 17. September ganz vorn unter den für die gemeinsame Erinnerung wichtigen Daten. Vorwürfen von "Desinformation" sollte weiterhin mit fachlicher Expertise entgegengetreten, der Geschichtspolitik der aktuellen polnischen Regierung mit Umsicht begegnet werden. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit den langfristigen Koordinaten des Gedächtnisses, die in Polen – und auch in den anderen Staaten Ostmitteleuropas – verhandelt werden, ist ein notwendiges und zukunftsweisendes Projekt.



[2] Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada, Nachbarschaft mit Geschichte: Blicke über Grenzen, Deutsch-Polnisches Barometer 2020, Institut für Öffentliche Angelegenheiten/Konrad-Adenauer-Stiftung/Deutsches Polen-Institut, Warschau/Darmstadt 2020.

[3] S. Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939-1941, München 2019. Zur historischen Analyse des Putin-Artikels, auch zum folgenden s. dies. in der Berliner Zeitung vom 7. Juli 2020: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putins-sicht-auf-den-zweiten-weltkrieg-ist-es-geschichtspolitik-li.91708 sowie Martin Aust, Anke Hilbrenner und Julia Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik, in L.I.S.A. vom 2. Juli 2020: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/geschichtspolitik_entspannungspolitik.

[7] S. dazu Aust, Hilbrenner und Obertreis, Geschichtspolitik braucht Entspannungspolitik.

[8] https://www.dw.com/de/hitler-stalin-pakt-putins-geschichtsklitterung/a-53878252.

[11] "Eine gemeinsame europäische Erinnerungsarbeit an den Zweiten Weltkrieg ist überfällig." Interview mit Anke Hilbrenner über die Resolution zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in L.I.S.A. vom 5. November 2019: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/hitlerstalinpakt_ankehilbrenner.