25.11.2021 - Politik

Weiß-rot und die Ampel: Was hält der Koalitionsvertrag der zukünftigen Bundesregierung für Polen bereit?

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Am gestrigen Mittwochnachmittag stellten die Spitzenkandidat:innen und Vorsitzenden von SPD, Grünen und FDP den Koalitionsvertrag der zukünftigen Ampelkoalitionsregierung vor. Und auch wenn Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik darin beizupflichten ist, dass sich die Inhalte des Vertrags vorranging an ein deutsches Publikum und nicht zuletzt auch die Mitgliederbasen der beteiligten Parteien wenden, so wird der Koalitionsvertrag selbstverständlich auch im Ausland zur Kenntnis genommen und dahingehend gelesen, was von der künftigen Bundesregierung für die unmittelbare Nachbarschaft, Europa und die Welt in Zukunft zu erwarten sein wird. Dies gilt zweifelsohne auch für Polen. Was also hält die zukünftige Bundesregierung für Polen bereit?

Polen im Koalitionsvertrag

An zwei Stellen im Koalitionsvertrag wird Polen explizit erwähnt. Einmal unter der Überschrift „Kultur- und Medienpolitik“. Hier erklärt das Papier: „Wir unterstützen die Bundestagsbeschlüsse für ein Dokumentationszentrum ‚Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa‘ und für einen Erinnerungs- und Begegnungsort im Gedenken an die Opfer der Besatzung Polens und die wechselvolle deutsch-polnische Geschichte.“ (125)

Der Absatz in insofern bemerkenswert, als er die deutsch-polnische Geschichte während des Zweiten Weltkriegs ins Zentrum stellt, inhaltlich aber darüber hinausgeht und die gesamte deutsch-polnische Geschichte in den Blick nimmt.

Die zweite Nennung erfolgt unter der Überschrift „Europäische Partner“. Hier verkündet das Koalitionspapier im direkten Anschluss an die Betonung der Wichtigkeit der deutsch-französischen Partnerschaft und die Fortentwicklung des Weimarer Dreiecks: „Deutschland und Polen verbindet eine tiefe Freundschaft. Wir stärken hier die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Akteure (z.B. Deutsch-Polnisches Jugendwerk). Wir verbessern die Zusammenarbeit in Grenzräumen, z. B. durch Grenzscouts, Regionalräte und Experimentierklauseln.“ (136)

Hier erscheint die Koalitionsvereinbarung ambivalent. Einerseits unterstreicht der Koalitionsvertrag die herausgehobene Rolle der Beziehungen zu Polen, das als Freund bezeichnet und in einem Atemzug mit Partner Frankreich genannt wird. Auch die mittlerweile traditionelle Erwähnung des Weimarer Dreiecks zeigt, dass die Hoffnungen auf eine erfolgreiche trilaterale Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen im Rahmen dieses Formats noch nicht aufgegeben worden sind. Andererseits betont der Koalitionsvertrag explizit die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und schlägt keine politische Zusammenarbeit auf höherer Ebene vor, die mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung vergleichbar wäre.

Die östliche Nachbarschaft der EU

Doch der Koalitionsvertrag enthält auch für Polen relevante Passagen, ohne das Land explizit zu erwähnen. Dies betrifft etwa die östliche Nachbarschaft der Europäischen Union, insbesondere die Beziehungen Deutschlands zur Ukraine, Belarus und Russland. So bekennt sich der 177 Seiten starke Text zur „Fortentwicklung der Östlichen Partnerschaft. Staaten wie die Ukraine, Moldau und Georgien, die einen EU-Beitritt anstreben, sollen sich durch konsequente rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Reformen annähern können. Wir werden entschlossen und verlässlich auf demokratische Umbrüche reagieren und den Demokratiebewegungen ein Partner sein.“ (153) Zudem erklärt das Papier, Deutschland werde „die Ukraine weiter bei der Wiederherstellung voller territorialer Integrität und Souveränität unterstützen.“ (153)

Weiterhin verspricht der Vertrag eine Unterstützung der demokratischen Oppositionsbewegung in Belarus, verurteilt die russische Unterstützung des Lukaschenko-Regimes und stellt die Verhängung weiterer Sanktionen gegenüber dem Diktator in Aussicht. (154)

In Bezug auf das Verhältnis zu Russland wird die neue Bundesregierung laut dem Koalitionsvertrag zwar einerseits weiterhin auf Dialog setzen. Andererseits betont sie, dass die deutsch-russischen Beziehungen nicht losgelöst von den Beziehungen zu Deutschlands Partnern in Mittel- und Osteuropa gesehen werden könne. So hebt der Vertrag im Kontext des Bekenntnisses zur NATO als „unverzichtbare[r] Grundlage unserer Sicherheit“ hervor, dass die neue Bundesregierung die Sorgen insbesondere unserer mittel- und osteuropäischen Partnerstaaten ernst [nimmt]“ und sich folglich „zur Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials“ bekennt. (144-145)

An anderer Stelle bestätigt der Koalitionsvertrag diese Position, wenn es heißt: „Wir achten die Interessen unserer europäischen Nachbarn, insbesondere unserer Partner in Mittel- und Osteuropa. Unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen werden wir Rechnung tragen und den Fokus auf eine gemeinsame und kohärente EU-Politik gegenüber Russland legen.“ (154)

Hiermit unterstreicht die neue Bundesregierung, dass es keine deutsche Politik gegenüber Russland über die Köpfe der mittel- und osteuropäischen Partner, darunter Polen, geben wird. Offen bleibt jedoch, wie sich dieses Bekenntnis zur bevorstehenden Inbetriebnahme der Ostsee-Gas-Pipeline Nord Stream II verhält, einem zentralen politischen Zankapfel in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Gasleitung selbst findet keine Erwähnung im Koalitionsvertrag.

Die Rechtsstaatlichkeitskrise: Der Streit zwischen Polen und der EU

Das für die aktuellen Herausforderungen in den deutsch-polnischen Beziehungen bedeutsamste Kapitel des Koalitionsvertrags kommt hingegen völlig ohne Verweis auf Polen oder die Region Ostmitteleuropas aus. Unter der Überschrift „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“ setzt sich das Kapitel mit dem Verhältnis Deutschlands zur Europäischen Union und der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in Europa auseinander. Dabei positioniert sich die neue Bundesregierung im Rechtsstaatlichkeitsstreit zwischen Polen und der Europäischen Union unmissverständlich auf Seiten der EU: „Wir setzen uns für eine EU ein, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und entschlossen für sie eintritt. Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“ (130)

Was sich die neue Bundesregierung hierzu en détail vorstellt, legt der Abschnitt „Rechtsstaatlichkeit“ ausführlich und präzise dar, weshalb es sich lohnt, ihn in Gänze anzuführen:

Wir wollen die Werte, auf denen sich die EU in Art. 2 Vertrag über die Europäische Union (EUV) gründet, effektiv schützen. Wir fordern die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge auf, die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen, auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), via Artikel 260 und 279 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Gleichzeitig werden wir im Rat die Anwendung der bestehenden Rechtsstaatsinstrumente (Rechtsstaatsdialog, Rechtsstaatscheck, Konditionalitätsmechanismus, Vertragsverletzungsverfahren, Empfehlungen und Feststellungen nach Artikel-7-Verfahren) konsequenter durchsetzen und weiterentwickeln. Wir werden den Vorschlägen der EU-Kommission zu den Plänen des Wiederaufbaufonds zustimmen, wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind.

Wir unterstützen die EU-Kommission bei der Weiterentwicklung des Rechtsstaatsberichts durch länderspezifische Empfehlungen und wollen u. a. den Prozess mit unabhängiger Expertise weiter stärken. Wir setzen uns dafür ein und unterstützen, dass die EU-Kommission künftig auch Verfahren gegen systemische Vertragsverletzungen vorantreibt, indem sie einzelne Verfahren bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit gegen einen Mitgliedstaat bündelt. Wir wollen, dass die Rechte aus der EU-Grundrechtecharta vor dem EuGH künftig auch dann eingeklagt werden können, wenn ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich seines nationalen Rechts handelt. Um den EuGH zu stärken, sollte die Richterwahlzeit auf einmalig zwölf Jahre verlängert werden. Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können. Wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement durch die Stärkung gemeinnütziger Tätigkeit über Grenzen hinweg fördern.“ (132)

Die nachgiebige Politik der alten Bundesregierung, die von Kritiker:innen bisweilen als „Appeasement“ oder „Beschwichtigungspolitik“ gegenüber Polen tituliert worden ist, scheint damit an ihr Ende gekommen zu sein. Mit besonderem Entgegenkommen in Sachen Rechtsstaatlichkeit wird die polnische Regierung von deutscher Seite nicht rechnen können. Dies hatte zuletzt auch ein gemeinsamer Artikel der Ampel-Politiker Reinhard Bütikofer (Grüne), Michael Link (FDP) und Dietmar Nietan (SPD) klargestellt. Allerdings dürfte die neue Bundesregierung es weiterhin der Europäischen Kommission überlassen, sich mit Polen über Fragen der Rechtsstaatlichkeit auseinanderzusetzen. Schließlich würde eine Bilateralisierung des Konflikts denjenigen Kräften in Polen Vorschub leisten, die die Europäische Union ohnehin lediglich als Vehikel deutscher Machtprojektion auf dem alten Kontinent sehen.

Fazit

Insgesamt lässt sich in dem Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ein zweigleisiger Ansatz in der Politik gegenüber Polen identifizieren. Zum einen greift Deutschland ein zentrales polnisches Anliegen im Bereich der Sicherheitspolitik (NATO-Bekenntnis, Berücksichtigung u.a. polnischer Interessen im Kontext der Beziehungen zu Russland) auf und unterstreicht hier die Rolle des Nachbarn als zentraler Partner in Europa. Darüber hinaus erkennt Deutschland mit dem geplanten Ort der Erinnerung und der Begegnung mit Polen eine hervorgehobene Rolle des Nachbarn in der deutschen Erinnerungskultur an. Zum anderen macht das Koalitionspapier klar, dass Polen im Rechtsstaatlichkeitsstreit mit der EU nicht auf Verständnis und Unterstützung aus Berlin hoffen kann, sondern sich, im Gegenteil, auf eine weitere Verzögerung der Auszahlung von EU-Mitteln im Rahmen des Wiederaufbaufonds einstellen muss. Zudem betont der Koalitionsvertrag die Bedeutung der Zusammenarbeit im Bereich der Zivilgesellschaft und schweigt sich über mögliche Kooperationen auf der offiziellen politischen Ebene aus. Die einzige Ausnahme bildet das Weimarer Dreieck, wobei offenbleibt, ob hier tatsächlich an eine Wiederbelebung des meist stiefmütterlich behandelten Formats gedacht ist oder ob die Erwähnung lediglich als Feigenblatt zur Verhüllung der bilateralen Funkstille zwischen Deutschland und Polen dient.