16.10.2023 - Politik, Gesellschaft
Die PiS gewinnt die Wahl, verliert aber die Parlamentsmehrheit
[Aktualisierungen sind fett markiert; letzte Aktualisierung: 17.10.2023]
Polen hat gewählt. Das amtliche Endergebnis liegt mittlerweile vor und unterscheidet sich nicht wesentlich von den ersten Prognosen der Exit Polls am Wahlabend. Klarer Wahlsieger ist die noch regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) mit 35,38 Prozent der Stimmen. „Noch“, weil sie nicht in der Lage ist, ein weiteres Mal nach 2015 und 2019 alleine die Regierung zu stellen und selbst mit der als Koalitionspartnerin gehandelten Konfederacja, ob deren überraschend schwachen Abschneiden (7,16 Prozent) auf keine Mandatsmehrheit im wichtigeren Unterhaus des polnischen Parlaments, dem Sejm, kommt. Die Mehrheit der Mandate hat sich stattdessen die liberal-demokratische Opposition gesichert. Die Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) um Ex-Premierminister Donald Tusk erreicht demnach 30,7 Prozent der Stimmen, der Dritte Weg 14,4 Prozent und die Lewica 8,61 Prozent. Damit würden die drei Parteien über eine bequeme Parlamentsmehrheit von 248 Mandaten bei 460 Sitzen verfügen und wären in der Lage, die nächste polnische Regierung zu bilden.
Doch auch wenn die liberal-demokratische Opposition mit ihrem Wahlergebnis den ersten und wichtigsten Schritt hin zu einem Regierungswechsel in Polen gegangen ist, müssen zur faktischen Regierungsübernahme weitere Schritte folgen. Die polnische Verfassung behält in Artikel 154 dem Präsidenten das Recht vor, den Premierminister zu designieren und ihm den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen. In der Vergangenheit pflegte der Präsident diesen Auftrag stets dem Spitzenkandidaten der Partei mit der größten Wählerunterstützung zu geben. Und auch der amtierende Präsident Andrzej Duda versicherte bereits vor geraumer Zeit, dass er diese Tradition fortzusetzen gedenke. Mit anderen Worten: bevor die Opposition zum Zuge kommen könnte, wird zunächst die PiS versuchen – trotz aller Widrigkeiten – eine Parlamentsmehrheit zustande zu bringen.
Laut Verfassung ist der Präsident verpflichtet, binnen dreißig Tage nach dem Wahltermin, die erste Sitzung des neuen Parlaments einzuberufen. Ab dieser ersten Sitzung beginnt die Uhr für die Bildung einer neuen Regierung zu ticken. Nun hat der Präsident vierzehn Tage Zeit, dem designierten Premierminister einen Regierungsauftrag zu erteilen. Nach der Beauftragung durch den Präsidenten hat der designierte Premierminister vierzehn Tage Zeit, um sein Kabinett vorzustellen und das Vertrauen des Parlaments zu erhalten, was in der Regel bedeutet: die Zustimmung von mindestens 231 der insgesamt 460 Abgeordneten des polnischen Unterhauses zu organisieren. Erst wenn dieser erste Versuch einer Regierungsbildung misslungen ist, geht die Initiative auf den Sejm über, d.h. erst ab diesem Zeitpunkt wäre die liberal-demokratische Opposition zum ersten Mal am Zug und könnte versuchen, eine Regierung zu bilden, wofür auch ihr vierzehn Tage zur Verfügung stehen. Zwar dürfte es Versuche der liberal-demokratischen Opposition geben, Präsident Duda davon zu überzeugen, angesichts besserer Erfolgsaussichten direkt einen KO-Kandidaten mit der Regierungsbildung zu beauftragen, doch es darf bezweifelt werden, dass das polnische Staatsoberhaupt diesem Wunsch nachkommen wird.
Im Klartext bedeutet dies, dass die PiS bis zu acht Wochen Zeit hat, ihre aktuelle Ausgangslage zu verbessern. Laut dem amtilichen Endergebnis hat die PiS 194 Mandate erreicht, womit ihr mindestens 37 Mandate zu einer Parlamentsmehrheit fehlen würden. Auch die Konfederacja als potenzieller Koalitionspartner kommt auf gerade einmal 18 Mandate. Dennoch ist die PiS derzeit weit davon entfernt, die Flinte ins Korn zu werfen, und sondiert stattdessen, welche Abgeordneten der anderen Parteien zu einer Unterstützung der PiS bewegt werden könnten. Die Aussagen am Wahlabend von Regierungssprecher Piotr Müller, wonach man für die Koalitionsfindung darauf warten müsse „welche Abgeordneten“ ins Parlament einziehen, deuten in genau diese Richtung.
Ein definitiver Gewinner dieser Parlamentswahlen ist auf jeden Fall die polnische Demokratie. Mit einer historisch hohen Wahlbeteiligung von 74,38 Prozent wird die kommende polnische Regierung auf ein starkes demokratisch legimitiertes Mandat setzen können, was angesichts der anstehenden Herausforderungen auch dringend nötig sein wird. Überraschend waren auch die Themen, die laut Befragung von der Gesamtpolnischen Forschungsgruppe (Ogólnopolska Grupa Badawcza) die Wahlentscheidung am meisten beeinflusst haben. Hier lag die wirtschaftliche Situation mit 27,8 Prozent klar vor anderen Themen wie Abtreibung und Frauenrechte (16,5 Prozent), Landessicherheit (16,5 Prozent) und dem Zustand des Justizwesens (16,3 Prozent). Immigration und die Umverteilung von Flüchtlingen gaben hingegen nur 7,1 Prozent als ausschlaggebendes Thema an.