05.06.2024 - Geschichte, Gesellschaft , Politik
Ein Frontstaat denkt um. Derzeitige Herausforderungen der polnischen Verteidigungspolitik
Photo by British army Sgt. Ian Houlding
Józef Piłsudski hat einmal über die Russen folgendes gesagt: „Pamiętajcie, że dusza Rosjanina, jeśli nie każdego, to prawie każdego, jest przeżarta duchem nienawiści do każdego wolnego Polaka i do idei wolnej Polski.”, was übersetzt bedeutet: „Denkt immer daran, dass der Geist, wenn nicht eines jeden, so fast eines jeden Russen vom Hass gegen jeden Polen und gegen die Idee eines freien Polens zerfressen ist.“
Piłsudski war geprägt von den Kriegen, die er gegen das zaristische Russland und später die Bolschewiki für Polen ausfechten musste. Man könnte meinen, dass dieses Zitat, sosehr es in der damaligen Wahrnehmung für Piłsudskis Zeit zutraf, heute nicht mehr zutreffen kann. Ja, die UdSSR ist 1939 zusammen mit Nazi-Deutschland in Polen einmarschiert, hat in Katyń tausende polnischer Offiziere ermordet und 1945 das Land zwar von den Deutschen befreit, aber dabei selbst besetzt und als Vasallenstaat in ihre Machtsphäre gezwungen.[1] Das alles ist passiert, aber auch vergangen, schließlich kam es 1989 zur großen Wende und manche sahen in den folgenden Jahren gar das Ende der Geschichte gekommen.
Als der ehemalige polnische Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski 2005 nach Moskau reiste, hatte er ganz im Sinne dieses Zeitgeists einen Dialog eröffnen wollen.[2] Das vom russischen Imperialismus seit Jahrhunderten bedrohte polnische Volk war bereit für einen Ausgleich und bereit, einen neuen Weg mit Russland einzuschlagen. Kwaśniewski wollte über Katyń sprechen und auch über Jalta. Schade nur, dass es von russischer Seite hierzu nichts zu besprechen gab. Kwaśniewski kam damals mit leeren Händen zurück nach Warschau und verlor noch im selben Jahr die Wahl gegen Lech Kaczyński.
Wenn Dmitri Medwedew, ehemalige Präsident und Premierminister der russischen Föderation und derzeitiger Vorsitzender der Partei Einiges Russland sowie treuer Gefolgsmann Putins, heute sagt, dass die Geschichte gegenüber den anmaßenden Polen mehr als einmal ein unbarmherziges Urteil gesprochen hat[3] und Putin erklärt, dass Polen an seinem Schicksal im Zweiten Weltkrieg selber schuld sei[4], dann wird klar, dass die Geschichte 1989 keineswegs zu Ende gegangen ist. Es scheint so, dass durch den im Februar 2022 durchgeführte Überfall Russlands auf die Ukraine die Worte Piłsudskis wieder ihre Bedeutung zurückgewonnen haben. Bemerkbar wird das vor allem durch Ereignisse wie das vom 24. März 2024, als ein russischer Flugkörper des Typs Ch-101 für 39 Sekunden den polnischen Luftraum verletzte um ein Ziel in der Westukraine zu treffen.[5]
Photo by Polish army Master Sgt. Artur Zakrzewski/Poland
Für Polen war spätestens nach dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine von 2014 klar, dass der Gegner nach wie vor Russland heißt[6] und dass man seine eigenen Streitkräfte auf einen Angriff durch diesen Gegner vorbereiten muss. Die Ereignisse ab dem 24. Februar 2022, als Russland seine Vollinvasion der Ukraine begann, bestätigten nur diese Sichtweise. Nicht ohne Grund warnte Donald Tusk, der im Dezember 2023 neu gewählte Premierminister Polens, seine Bevölkerung, dass man sich in einer Vorkriegszeit befinde.[7] Erwähnt werden sollte hierzu, dass in Expertenkreisen die Pessimisten davon ausgehen, dass ein Angriff Russlands auf die NATO in den nächsten zwei bis drei Jahren möglich ist.[8]
Aber was heißt das alles konkret? Wie soll sich eine solche Verteidigung gestalten? Im Gegensatz zu Deutschland, kann für die Polen ein russisches Panzerbataillon direkt hinter dem Grenzzaun auffahren. Der Feind ist in Sichtweite und man ist sich der Situation durchaus bewusst, dass man im Fall der Fälle ein Frontstaat sein wird.
Es lohnt sich zunächst ein Blick in die Geografie des Landes. Der größte Teil liegt in der sogenannten polnischen Tiefebene, die in ihrer weiten Fläche nach Westen Richtung Brandenburg, nach Norden in die Ostsee und das Baltikum und westlich nach Belarus ausläuft. Lediglich südlich und auch nur jeweils an den Grenzen wird das Land durch verschiedene Gebirge umschlossen. Jedoch auch nur in den Grenzregionen zu Tschechien, der Slowakei und zum Teil der Ukraine. In der Mitte ist das Land geteilt durch den Fluss Weichsel (Wisła) der über Krakau im Süden einen großen Bogen nach Osten macht, durch Warschau fließt und dann wieder mittiger nach Norden an Danzig vorbei und in die Ostsee mündet.
Zur Verteidigung dieser Gebiete stehen den polnischen Streitkräften derzeit 202 100 Berufssoldaten, 50 000 Soldaten der Territorialverteidigung und 350 000 Reservisten zur Verfügung.[9] Hinzu kommen im Bündnisfall selbstverständlich auch die Streitkräfte der anderen NATO-Mitgliedsstaaten, wobei hier die Frage offen bleiben darf, wie viele Truppen am Ende jeder der Staaten zur Verteidigung Polens wirklich schicken wird.
Die oben skizzierte geografische Lage mit den fehlenden natürlichen Barrieren stellt deshalb für Polen eine strategische Herausforderung dar,[10] gleichzeitig ist Polen ein Frontstaat mit der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) im Norden und Belarus im Osten. Die schmale 60 km breite Grenze zu Litauen, die sich zwischen den beiden gegnerischen Territorien befindet, wird auch Suwałki-Lücke genannt. Diese ist für die Strategie der NATO von immenser Bedeutung, denn sie ist der einzige Landzugang zum Baltikum, das gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags gehalten werden muss, wenn die dortigen Staaten angegriffen werden. Solange Kaliningrad im Zuge eines Verteidigungsfalls durch NATO-Kräfte nicht genommen wurde, geht von dieser Region für die Verteidigung der Ostflanke des Bündnisses eine große Bedrohung aus. Kaliningrad muss also genommen werden, und hierbei werden polnische Kräfte, alleine aus dem Umstand, dass man sich eine Grenze teilt, eine wichtige Rolle spielen müssen.
Polnische Experten verweisen bei der Diskussion um die Strategie bezüglich des Umgangs mit der Exklave Kaliningrad auf eine andere, geografisch wichtige, Region, das „Tor von Smolensk“.[11] Die Landbrücke, welche sich zwischen den Flüssen Daugava (Düna) und Dnepr erstreckt, war historisch schon immer das Einfallstor Russlands nach Europa.[12] Es erscheint daher aus polnischer Perspektive falsch, einen Schwerpunkt auf die Suwałki-Lücke zu legen, sondern es sollte vielmehr einen massiver Vorstoß russischen Kräfte über das Tor von Smolensk aus Belarus erwartet werden.[13]
Hieraus ergab sich 2019 die Diskussion, wie man mit diesen beiden wichtigen Regionen umzugehen hat und welche Strategie die beste sei, um Polen effektiv gegen einen Angriff zu verteidigen. Der Annahme folgend, dass Polen keine Ressourcen habe, um offensiv im weitesten Sinne auf das Tor von Smolensk und im engeren Sinne die Suwałki-Lücke einzuwirken, musste eine effektive Strategie gefunden werden. Hieraus ergab sich die Konzeption einer linearen Verteidigung entlang der Weichsel unter Aufgabe der östlich von ihr gelegenen Staatsgebiete.[14]
Dieses Konzept wurde jedoch bedingt durch den Ausgang der Übung „Zima2020“ komplett verworfen. Das im Frühjahr 2020 durchgeführte „War Game“ (eine rein theoretische Simulation der Kräfte auf Karten und in Computerprogrammen) ergab eine Niederlage Polens nach nur 5 Tagen.[15] Simuliert wurde ein Konflikt, bei dem es zu einem Angriff Russlands auf Polen kam und dieses sich ohne NATO-Kräfte zu verteidigen hatte.[16] Gemäß der oben skizzierten Strategie wurden schnell 40 % des polnischen Staatsgebiets aufgegeben und eine Verteidigung entlang der Weichsel organisiert, die aber nach nur 4 Tagen in einer Einkesselung Warschaus durch russische Streitkräfte mündete.[17]
Auch wenn es bei solchen „War Games“ nicht darum geht zu gewinnen, sondern vielmehr um ein Aufeinanderprallen der Ressourcen beider Seiten zu simulieren, hat das Ergebnis tiefe Spuren hinterlassen, die eine Diskussion um eine neue Strategie ausgelöst haben.[18]
Im Lichte der Intensivierung des Kriegs Russlands gegen die Ukraine, die mit der massiven Invasion am 24. Februar 2022 startete, haben die Ergebnisse des War Games, aber auch der Stand der polnischen Streitkräfte viele Fragen aufgeworfen. Dabei wurde das 2017 herausgegebene Konzept zur Verteidigung Polens[19] noch immer nicht überarbeitet. Gleichzeitig hat unter der im Oktober 2023 abgewählten PiS-Regierung ein massiver Einkauf von modernem militärischem Gerät stattgefunden. So wurden unter anderem von US-amerikanischen Lieferanten 500 Himars-Systeme („High Mobility Artillery Rocket System“), 366 Abrams-Kampfpanzer, 32 Flugzeuge des Typs F 35 sowie aus Süd-Korea 1000 Panzer vom Typ K2 Black Panther, 288 Chunmoo-Raketenwerfer usw., in einem Gesamtwert von 37 Milliarden Euro bestellt.[20] Die Regierung von Donald Tusk prüft diese Aufträge zwar, wird aber an einem Großteil davon festhalten.
Nicht ohne Grund bezeichnete General Mirosław Różański, neu gewählter Abgeordneter des Dritten Wegs, im Interview mit der FAZ, das diese Käufe durchaus auch als nach innen gerichtete Panikkäufe verstanden werden dürfen, die den Bürgern das Gefühl von Sicherheit verschaffen sollten, ganz nach dem Motto: „damit man zeigt, dass man etwas tut“.[21]
Doch Polen ist noch nicht verloren, egal wie schnell oder langsam der Umbau der Strategie und Streitkräfte dauern wird, denn auch die NATO rüstet insgesamt auf. Das neue Konzept, das auf dem Gipfel in Madrid 2022 vorgestellt wurde, sieht eine Abkehr von der bis jetzt verfolgten Strategie deterrence by reinforcement vor. Diese ging von folgendem Szenario aus: Würden die wenigen ausländischen NATO-Truppen, die in z.B. Polen stationiert sind, im Rahmen eines Angriffs auf Polen auch angegriffen werden, so würden die Heimatstaaten dieser Soldaten automatisch in den Krieg mit einbezogen, weshalb sie unmittelbar Verstärkung schicken könnten. Von dieser Strategie sollte Russland sich ab 2014 bis heute abschrecken lassen, überhaupt erst einen Angriff zu wagen.
Der neue Weg der NATO an ihrer Ostflanke lautet deterrence by denial, also Abschreckung durch große Truppenpräsenz alliierter Streitkräfte und das Vorverlagern von Munition und Gerät am Ort, welches dann die Truppen nicht mehr extra mitbringen müssen. Das alles, um Russland klarzumachen, dass ein Erfolg eines Angriffs aussichtslos wäre. Es handelt sich um eine Verschärfung der Abschreckungsmethode und ähnelt dem Modell, wie wir es aus Deutschland in der Zeit des kalten Krieges bereits kennen.
Polen steht also nicht alleine und wir dürfen erwarten, dass mit steigendem Druck aus Moskau, auch die Truppenpräsenz alliierter Streitkräfte auf polnischem Boden wachsen wird.
Nun gilt es einen kühlen Kopf zu bewahren und ein Konzept zu entwickeln, das sich gut in die Gesamtstrategie der NATO einbetten lässt. Hier könnte ein auch in Polen bekanntes Sprichwort eine gute Hilfe sein: „Strach nie jest dobrym doradcą“, was so viel heißt wie: „Angst ist kein guter Ratgeber“. Das ist der neugewählten polnischen Regierung ans Herz zu legen. Was ihr jedenfalls nicht fehlt, ist der Wille, es besser zu machen. Einen Anfang macht das jetzt im Mai 2024 beschlossene Konzept zum Aufbau von Verteidigungsstellungen entlang der 400 km langen Grenze zu Belarus. Man darf gespannt sein, welche gesamtstrategische Idee dem folgen wird.[22]
[1] Vgl. https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/207253/analyse-politisches-gedenken-polen-und-der-8-mai-1945/
[2] Vgl. Polen und der Osten, in: SWP Aktuell 2005/22
[3] Vgl. https://www.spiegel.de/ausland/russland-dimitrij-medwedew-droht-der-regierung-in-warschau-a-a4185f2a-779f-4883-b2b2-4fbd5e60e32a
[4] https://www.deutschlandfunk.de/das-geschichtsbild-des-kreml-putin-verteidigt-hitler-stalin-100.html
[5] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/angst-vor-wladimir-putin-viele-polen-planen-schon-ihre-flucht-19628676.html
[6] Vgl. Główne Zagrożenia i Wyzwania, in: Koncepcja obronna rzeczypospolitej polskiej, 05.2027, S. 23 f..
[7] https://www.spiegel.de/ausland/duestere-prognose-donald-tusk-warnt-vor-neuer-vorkriegszeit-in-europa-a-6afe7f48-ebe2-4dd1-aa32-755ca95c4d4f
[8] Vgl. https://www.newsweek.pl/polska/polityka/sikorski-w-wielu-krajach-zmienil-sie-jezyk-mowi-sie-o-gotowosci-do-wojny/6zv14b5
[9] Vgl. https://www.globalfirepower.com/country-military-strength-detail.php?country_id=poland
[10] Vgl. Andrew A. Michta, Poland history returns, in: A Hard Look at Hard Power, Strategic Studies Institute, US Army War College, Carlisle, 2020, S. 225 – 254 (229).
[11] Vgl. Fn. 10.
[12] Vgl. Fn. 10.
[13] Vgl. Fn. 10.
[14] Vgl. Fn. 10, S. 230.
[15] Vgl. https://www.newsweek.pl/polska/polityka/karabinki-grot-f35-przegrana-symulacja-wojny-z-rosja-nieudana-modernizacja-armii/lfv7bs7
[16] Vgl. Fn. 15.
[17] Vgl. Fn. 15.
[18] Vgl. Fn. 15.
[19] Koncepcja obronna rzeczypospolitej polskiej
[20] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-ruestet-auf-warschaus-milliarden-fuer-waffen-19321996.html
[21] Vgl. Fn. 20
[22] Vgl. https://wyborcza.pl/7,75398,30988686,gen-skrzypczak-jesli-dojdzie-do-ataku-rosji-bedzie-to-operacja.html