Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die 10.
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 22./23.10. 2004


Am 22. und 23. Oktober 2004 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ zu ihrer zehnten Sitzung im Deutschen Historischen Institut Warschau. Thema der Beratungen war die aktuelle Lage der deutsch-polnischen Beziehungen.
Das vorliegende Arbeitspapier IX der „Kopernikus-Gruppe“ fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                        Dezember 2004
Prof. Dr. Marek Zybura, Stettin/Breslau


Arbeitspapier IX der Kopernikus-Gruppe
Sorge um die deutsch-polnischen Beziehungen. Bedarf an Vernunft
                                      
Verlust der Zukunftsperspektive

In den deutsch-polnischen Streitigkeiten, die die Schlagzeilen der Medien in den zurückliegenden Monaten bestimmten, beunruhigt uns der Verlust der europäischen Perspektive, d.h. des Bewusstseins, dass gerade Kontroversen im Geist einer europäischen Verantwortung ausgetragen werden sollten, ausgehend davon, dass Deutsche und Polen nicht nur grundlegende europäische Werte miteinander teilen, sondern auch eine Streitkultur, die den Namen „Kultur“ verdient.
 
Anstelle der Suche nach einem gemeinsamen verantwortlichen Umgang mit der Geschichte beobachten wir eine Rückkehr zu Nationenbildern und Emotionen, die wir in dieser Form seit zwei Jahrzehnten überwunden glaubten. Die deutsch-polnischen Beziehungen drohen auf der Ebene der medialen und politischen Vermittlung den Bezug zu einer Integrationspolitik und zur Perspektive Zukunft zu verlieren. In Deutschland vermissen wir konzeptionelle Klarheit bei der Platzierung der Staaten Ostmitteleuropas im Rahmen deutscher Europapolitik, als ob der EU-Beitritt Polens und der anderen neuen EU-Mitglieder die Formulierung deutscher Interessen gegenüber Polen und den anderen ostmitteleuropäischen Staaten erübrige. In Polen scheint ein großer Teil der politischen Klasse, soweit sie sich in Warschau artikuliert, vergessen zu haben, dass parteienübergreifend vor 15 Jahren Deutschland aus wohl verstandenem nationalem Interesse als strategischer Partner in Europa definiert worden ist. Ein deutsch-polnischer Diskurs über die Zukunft Europas findet praktisch nicht statt.

In Deutschland beobachten wir eine dauerhafte Nichtbeachtung nachvollziehbarer polnischer Empfindlichkeiten, Oberflächlichkeit bei aller propolnischer Grundhaltung der wichtigsten politischen Parteien und einen Paternalismus, der die Entwicklung partnerschaftlicher, „erwachsener“ Beziehungen erschwert. Auf polnischer Seite beobachten wir unkontrollierte und emotionale Reaktionen und Rückfälle in ein alt hergebrachtes Feindbild des Deutschen bis in die auflagenstärksten Printmedien und, was wir für außerordentlich beunruhigend  halten, bis in die Mitte des Parlaments hinein. Gegen besseres Wissen werden in zynischer Weise oder aus Gedankenlosigkeit und schierem Nichtwissen die Errungenschaften polnischer Europa- und Deutschlandpolitik der letzten 15 Jahre aufs Spiel gesetzt. 

Gespensterschlachten

Die vergangenen Wochen und Monate haben zu einer Eskalation von gegenseitigen Vorwürfen und Forderungen zwischen der polnischen und deutschen Öffentlichkeit geführt. Auf die in Deutschland lange ignorierten und in ihrer politischen Sprengkraft unterschätzten Entschädigungsforderungen von Vertriebenenrepräsentanten hat der polnische Sejm schließlich am 10. September 2004 mit einem Beschluss reagiert, in dessen Mittelpunkt die Aufforderung an die polnische Regierung steht, mit Deutschland Verhandlungen in der Sache  Kriegsreparationen aufzunehmen. Während die so genannte „Preußische Treuhand“, die in geschichtsvergessener und brandstifterischer Weise Entschädigungsforderungen an Polen richtet, in Deutschland politisch isoliert und von keiner im Bundestag vertretenen Partei unterstützt wird, hat sich in Polen eine Mehrheit der Parlamentsabgeordneten hinter die Forderung nach Reparationen gestellt.

In dieser Situation haben sich die bisherigen Befürworter eines deutsch-polnischen Ausgleichs in die Enge drängen lassen und in einigen Fällen durch Schweigen oder Beschwichtigen an dieser Eskalation teilgenommen. Polnische Abgeordnete der politischen Mitte haben ihre europäischen und auf einen Ausgleich mit Deutschland gerichteten Überzeugungen hintangestellt und – offenbar aus Furcht, von der nationalistischen Rechten als unpatriotisch abgestempelt zu werden – in den Chor derer mit eingestimmt, die 60 Jahre nach Kriegsende aus kurzfristigen innenpolitischen Gründen und Gruppenegoismus heraus Hoffnungen nähren wollen, die immensen Leiden, die Polen während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden, könnten durch das Aufstellen völkerrechtlich zweifelhafter Maximalforderungen gelindert werden.

Deutsche Abgeordnete der politischen Mitte und ein großer Teil der politischen Öffentlichkeit in Deutschland haben unbeabsichtigt zu dieser Eskalation beigetragen, indem sie entweder aus Desinteresse an dem Thema oder aus parteipolitischen Rücksichten zu lange der Diskussion über die Sinnhaftigkeit und die Konzeption des von der Stiftung der Vertriebenen geforderten „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin ausgewichen sind und Alternativvorstellungen über ein europäisches Zentrum oder Netzwerk gegen Vertreibungen erst spät und halbherzig-reaktiv entwickelt haben. Die Forderung nach Entmarginalisierung und Integration der Geschichte der Deutschen in Ostmitteleuropa und der Vertreibungen der Deutschen im 20. Jahrhundert in das Narrativ der deutschen Geschichte und als zentraler Ort in einem Deutschen Geschichtsmuseum bleibt weiterhin ungehört. Die verständliche Empörung bei betroffenen Nachbarn, insbesondere in Polen, über die Oberflächlichkeit oder scheinbare Zufälligkeit bei der Auswahl von historisch-politischen Themen (wie: Bombardierung deutscher Städte, die Deutschen als Opfer) in Deutschland wird dabei sträflich vernachlässigt.

In dieser Situation sehen wir uns veranlasst, darauf hinzuweisen, dass:

  • die deutsch-polnischen Beziehungen nicht aus der derzeitigen Krise geführt werden können, wenn diejenigen, denen an ihnen liegt, nicht bereit sind, dafür persönliche und politische Opfer zu bringen und sich auch in ihren jeweiligen Parteien für einen Ausgleich zwischen beiden Ländern einzusetzen. Es ist Zeit, in den deutsch-polnischen Beziehungen Mut zu zeigen;
  • weder in Deutschland noch in Polen in den letzten Jahren Wahlen durch das Aufreißen von Gräben zwischen den Nachbarn gewonnen wurden. Das Schüren von antideutschen Stimmungen in polnischen Wahlkämpfen war erfolglos, und Parteien und Kandidaten, die an Deutschenangst und antideutsche Ressentiments appelliert haben, haben die entsprechenden Wahlen entweder verloren oder ihre Stimmengewinne anderen (ideologischen oder sozialökonomischen) Frontstellungen zu verdanken. Es gibt also keinen Grund, aus parteipolitischem Kalkül antideutscher Stimmungsmache radikaler und populistischer Parteien nachzugeben. In Deutschland sind die beunruhigenden Erfolge rechtsradikaler Parteien bei Landtagswahlen jedenfalls nicht das Resultat einer spezifisch polenfeindlichen Grundstimmung, sondern einer allgemein xenophoben Einstellung, die ebenso „Wessies“, Ausländer im allgemeinen oder wirtschaftlich erfolgreiche Deutsche unabhängig von ihrer geographischen Herkunft trifft;
  • in Deutschland wie in Polen mit unterschiedlicher Gewichtung und emotionaler Intensität wichtige Elemente der Außenpolitik Gegenstand innenpolitischer Gegensätze und parteipolitischer Profilierung geworden sind. Während dies in Deutschland vor allem im Bezug auf das transatlantische Verhältnis und den internationalen Kontext der Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ galt, war dies in Polen im Verhältnis zur EU-Verfassung und ist es unverändert im Verhältnis zu Deutschland der Fall. Wir appellieren an die proeuropäischen Politiker auf beiden Seiten, die übergeordneten Ziele eines guten bilateralen Verhältnisses und der Vertiefung der europäischen Integration nicht kurzfristigen innenpolitischen Interessen zum Opfer fallen zu lassen.

Das Ergebnis der Rechtsexpertise der von den beiden Regierungen beauftragten Rechtsexperten Prof. Jan Barcz und Prof. Jochen Abr. Frowein zur Aussichtslosigkeit von Entschädigungsforderungen vor nationalen und internationalen Gerichten ist zu begrüßen und sollte zu einer Beruhigung der Gemüter beitragen. Wir bedauern, dass die ernsthafte Erledigung eines 1991 bei Abschluss des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags ungelösten Problems so spät erfolgt ist und erst durch die derzeitige Eskalation hervorgerufen wurde. (Die Kopernikus-Gruppe hatte in ihrem Arbeitspapier Nr. 1 vom 8. Mai 2000 vor dem drohenden Wiederaufflammen der Eigentumsdiskussion mit dem Zeitpunkt des polnischen EU-Beitritts gewarnt.) Es muss äußerst nachdenklich stimmen, dass es beispielsweise der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe nicht gelungen ist, präventiv konfliktvermeidend oder konfliktmildernd tätig zu werden. Das Frühwarnsystem hat trotz einzelner Bemühungen aus dem Kreis der Parlamentarier wieder nicht funktioniert. Auch nach 15 Jahren ist es offenbar bequemer, übereinander zu reden als miteinander.
 
Wir befürchten, dass Prozesse von deutschen Klägern – unabhängig von ihrer juristischen Aussichtslosigkeit – in den kommenden Jahren weitere Emotionen auslösen und das deutsch-polnische Verhältnis belasten werden. Wir appellieren an Politik und Medien, diese Stimmungen nicht weiter anzuheizen und politischen Randerscheinungen, die lautstark daher kommen, nicht eine Aufmerksamkeit zu schenken, derer sie mangels gesellschaftlichen Einflusses nicht wert sind. Rudi Pawelka, der Aufsichtsratsvorsitzende der „Preußischen Treuhand“, ist erst durch das polnische Medienecho in Deutschland zu einer Person geworden, die über einen kleinen Kreis hinaus bekannt wurde.

Gemeinsame Interessen überwiegen

Wir richten unseren Appell auch an die Medien und Interessengruppen in beiden Ländern: Es ist ein Trugschluss, zu glauben, das Leid und die Verwüstungen, die der deutsche Angriffskrieg vor 65 Jahren und seine Folgen verursacht hat, könnten durch juristische Aufrechnungen gemildert oder gar ungeschehen gemacht werden. Die Verständigung zwischen Polen und Deutschland ist eine Aufgabe der Politik, der Kultur, der Zivilgesellschaft. Wenn das Gesetz des Handelns von Gerichten bestimmt werden soll, dann werden die so erfolgreichen Entwicklungen in der lokalen und regionalen deutsch-polnischen Nachbarschaftspolitik, in der Kultur und im weiteren gesellschaftlichen Raum gefährdet. Im allgemeinen Tenor der letzten Monate geht auch völlig unter, dass nicht zuletzt die weiter expandierenden deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen dem bilateralen Verhältnis eine solide materielle Basis verschaffen.
 
Schon heute fühlen sich die hunderttausende Deutschen und Polen, die sich für die Verständigung und Freundschaft engagieren, von unverantwortlichen Politikern und rücksichtsloser Medienpolitik im Stich gelassen. Gegen das so langlebige und immer wieder genährte Bild von den gegenseitigen negativen Stereotypen bleibt nämlich festzuhalten, dass die Gesellschaften und insbesondere ihre aktiven Teile weiter sind als die Politiker, die zuerst Popanze aufbauen, gegen die sie dann heldenhaft kämpfen. Und gerade ein beträchtlicher Teil der polnischen Gesellschaft hat unverändert eine sehr differenzierte Sichtweise von den deutschen Nachbarn.

Es ist nicht gut, das Feld Randgruppen und populistischen Strömungen zu überlassen, die in den letzten Wochen und Monaten den Ton der Auseinandersetzung bestimmt haben. Sie konnten es tun, weil zu viele Befürworter der deutsch-polnischen Verständigung geschwiegen haben. Deutsche und Polen tragen eine große Verantwortung nicht nur für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden Gesellschaften und Kulturen, sondern sind auch ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung der europäischen Verständigung und Integration.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.