Kopernikus-Gruppe

Mitteilung über die
Sitzung der „Kopernikus-Gruppe“ am 27.2/8.11.2009

Am 27. und 28. November 2009 traf sich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts und des Osteuropa-Studiums der Universität Warschau die aus deutschen und polnischen Expertinnen und Experten bestehende Kopernikus-Gruppe zu ihrer zwanzigsten Sitzung in Berlin. Themen der Beratungen waren ein Resümee des Jahres der Jahrestage 2009 und eine Diskussion der Agenda für die beiden Regierungen nach der Bundestagswahl und in der zweiten Halbzeit der Regierung Tusk. Zu der Sitzung waren junge deutsche und polnische Expertinnen und Experten eingeladen, die nicht zu dem bisherigen Teilnehmerkreis gehören.

Das vorliegende Arbeitspapier fasst die gemeinsamen Überlegungen der Mitglieder der Kopernikus-Gruppe zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt                               Januar 2010
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau


Arbeitspapier XVII
Notwendige Rückkehr zur Interessengemeinschaft

Das europäische „Jahr der Jahrestage“ – 20 Jahre Sturz des Kommunismus in Osteuropa, 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs, fünf Jahre Beitritt Polens und anderer Staaten Ostmitteleuropas zur EU – in  der polnischen Innenpolitik die Halbzeit der Regierung von Donald Tusk und in der deutschen Innenpolitik die Bundestagswahlen – all das bietet eine gute Gelegenheit, die deutsch-polnischen Beziehungen zu bilanzieren. Dabei soll die Bedeutung dessen unterstrichen werden, was positiv erreicht worden ist.
Die Zeiten sind vorbei, in denen man Polen in Deutschland als notorischen trouble maker empfinden konnte. Innerhalb der EU nimmt die Anerkennung für Polen zu, wie die Wahl von Jerzy Buzek zum Präsidenten des Europäischen Parlaments beweist. Im Laufe der letzten zwei Jahre ist es weitgehend gelungen, die negativen Emotionen der vorherigen Periode zurückzudrängen.

Die Bilanz des Jubiläumsjahres 2009 fällt im Ganzen positiv aus, womit es ihr gelingt, Defizite in den deutsch-polnischen Beziehungen im Bereich der Geschichtspolitik zu beseitigen. Das zeigen sowohl die Feiern zum 20. Jahrestag des Sturzes des Kommunismus in Krakau (4. Juni) und in Berlin (9. November) als auch die Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 auf der Westerplatte. Unabhängig von den Spannungen hinter den Kulissen während der Vorbereitungsphase war deren Effekt am Ende positiv, da der Fall der Berliner Mauer schließlich als Symbol der osteuropäischen Revolutionen von unten dargestellt wurde, wobei die auslösende Rolle der „Solidarność“ eine besondere Würdigung erfuhr, und nicht nur die „deutsche Revolution“.

Auch die Feierlichkeiten auf der Westerplatte waren ein europäisches Ereignis, was in erheblichem Maße der Anwesenheit der deutschen Kanzlerin und ihrer Rede zu verdanken war, aber auch der Präsenz des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Niemals zuvor ist der Angriff des Dritten Reiches auf Polen am 1. September 1939 und die Rolle des Hitler-Stalin-Paktes so intensiv in der europäischen Presse kommentiert worden.

Die Feierlichkeiten des Jahres 2009 haben die Grundlagen für eine deutsch-polnische Annäherung in Fragen der Geschichtspolitik geschaffen, auch wenn weiterhin noch Meinungsunterschiede über die Stiftung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung” existieren. Deutsche und Polen können mit der Zusammenarbeit auf diesem Feld einen wichtigen Beitrag zu einem europäischen historischen Gedächtnis leisten.

Die Reise von Außenminister Guido Westerwelle nach Warschau als erster Antrittsbesuch setzte ein außerordentlich positives Signal. Ebenso erlaubt es das Vertrauen, das zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Donald Tusk spürbar herrscht, die deutsch-polnischen Beziehungen als stabil und nicht nur als korrekt zu bezeichnen. Es ist auch eine wichtige Geste der neuen Bundesregierung, dass sie das Weimarer Dreieck zum Bestandteil des Koalitionsvertrags gemacht hat.

Doch trotz der merklichen Verbesserung der Atmosphäre in der jüngsten Zeit und so zahlreicher positiver Signale unterscheiden sich Deutschland und Polen sowohl durch ihre Interessen als auch durch ihre Erfahrungen in vielen Punkten. Dazu wirft Warschau Berlin vor, Russland gegenüber keine europäische Politik zu verfolgen, sondern sich ausschließlich nach seinen eigenen nationalen Interessen zu richten. Der gleiche Vorwurf wird von Deutschland gegen Polen erhoben. Polen möchte eine gemeinsame Energiepolitik als Entsprechung für die frühere westeuropäische Montanunion im 21. Jahrhundert, während Deutschland eine eigene Energiepolitik betreibt. Die Unterschiedlichkeiten betreffen viele Punkte, ohne dass sie das gemeinsame strategische Interesse in Frage stellen könnten.

Es gilt auch den Blick darauf zu richten, dass sich im deutsch-polnischen Verhältnis ein stark bemerkbarer Generationenwechsel vollzieht. Wie die Bundestagswahlen im September 2009 gezeigt haben, verlassen sowohl die aus der Kriegsgeneration stammenden „Gründerväter“ der deutsch-polnischen Versöhnung wie auch ihre unmittelbaren Nachfolger aus der Nachkriegsgeneration die politische Szene. Die Errungenschaften dieser Versöhnung sind ein großer Schatz, und man darf sie nicht der Vergessenheit anheim fallen lassen – den Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den Worten des gegenseitigen Verzeihens, den Kniefall des deutschen Kanzlers Willy Brandt im Dezember 1970 vor dem Warschauer Gettodenkmal und den Friedensgruß zwischen Premier Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl während der Kreisauer Versöhnungsmesse vom November 1989, um nur wenige Zeichen zu erwähnen.

An die Stelle der großen Pioniere und Schöpfer der deutsch-polnischen Versöhnung treten – in Deutschland und in Polen – vierzig- bis fünfzigjährige Pragmatiker, die mehr von der Innen- als von der Außenpolitik ihrer Länder geprägt sind, und – was die deutsch-polnischen Beziehungen betrifft – von der Atmosphäre des Streits um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, um Nord Stream, die unterschiedliche Beziehung Deutschlands und Polens zu den USA (Irakkrieg, Raketenabwehrsystem) sowie den Platz Deutschlands in der EU (Verfassungsdebatte).

Zwar sind Angela Merkel und Donald Tusk durch gegenseitiges Vertrauen verbunden, doch das ist zu wenig, um von einer größeren Vision der deutsch-polnischen Beziehungen für das nächste Jahrzehnt zu sprechen. Diese aber steht heute an. Zudem scheinen die jungen Politiker und Abgeordneten beider Länder noch keinen neuen gemeinsamen Schlüssel für die deutsch-polnischen Beziehungen und auch keine neuen gemeinsamen Aufgaben im vereinten Europa entdeckt zu haben. Eine Rückkehr zur Debatte über die „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“, die einst die Minister Krzysztof Skubiszewski und Hans-Dietrich Genscher eröffnet hatten, ist heute angesichts der großen Herausforderungen, die uns das 21. Jahrhundert bereitet, notwendig. Darum geht es vor allem: diese Herausforderungen so rasch wie möglich zu benennen.

1. Das Vorbild der deutsch-französischen Versöhnung
Deutsche und Polen sind dazu aufgefordert, die ungeachtet der vielfältigen Asymmetrien tatsächlich bestehenden Analogien mit den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zu erkennen. Das westliche Deutschland und Frankreich waren über Jahrzehnte und noch nach dem Wendejahr 1989 zwei Pole bezüglich ihrer Interessen und ihrer Vorstellungen von Europa. Aber gerade deshalb wurde die Kooperation zwischen Bonn/Berlin und Paris zum Motor der europäischen Integration und die Verständigung zwischen den beiden Regierungen die notwendige Bedingung für deren Weiterentwicklung.
Wir sollten auf das deutsch-französische Muster setzen und den Kompromiss und Ausgleich zwischen Berlin und Warschau suchen, ohne den die Weiterentwicklung der EU 27 zu scheitern droht. Da aber beiden, Deutschen und Polen, an der Zukunft der EU gelegen ist, gibt es hier die „Interessengemeinschaft in Europa“. Die Idee der „Interessengemeinschaft“ nimmt aber nicht die prästabilisierte Harmonie als Ausgangspunkt der Politik an, sondern sucht auf der Grundlage gemeinsamer Grundsätze des Umgangs miteinander und eines Einvernehmens über den Modus Operandi nach einem Interessenausgleich im bilateralen und damit zugleich europäischen Interesse.
Das Vorbild der deutsch-französischen Versöhnung als „Motor der EU“ wird bereits durch die dritte Generation akzeptiert und hat die beiderseitigen Spannungen und vitalen Interessengegensätze – nicht zuletzt in der Europapolitik – relativiert, an denen es auch in den aktuellen Beziehungen nicht fehlt (Energiepolitik, Mittelmeerunion u.a.). Einer vergleichbar dauerhaft stabilen politischen Philosophie für das 21. Jahrhundert bedürfen Deutsche und Polen. Sie können die aktuellen deutsch-polnischen Meinungsverschiedenheiten in den kooperativen Rahmen dauerhaften Vertrauens einbetten.

Aus diesen Gründen sollten auch alle Anstrengungen unternommen werden, damit das Weimarer Dreieck zu einem wesentlichen informellen Faktor der weiteren europäischen Integration wird – das gilt sowohl im Hinblick auf die Annäherung zwischen den „alten“ und den „neuen“ Mitgliedern der EU, wie auch auf die Gestaltung einer gemeinsamen EU-Ostpolitik, die ohne das Engagement Frankreichs nicht möglich ist.

2. Gemeinsame Ostpolitik
So liegt es sowohl im Interesse der bilateralen Beziehungen als auch im Interesse der EU als ganzer und ihrer Mitgliedsländer zu verhindern, dass ein Keil zwischen das „alte“ und „neue Europa“, insbesondere zwischen Polen und Deutschland, getrieben wird, wie es die USA im Jahre 2003 und Russland im Jahre 2005 getan haben. Selbst wenn es kaum möglich ist, Moskauer Versuche zu verhindern, die „neurotischen“ Polen zu isolieren und gleichzeitig die „nachgiebigen“ Deutschen zur Kooperation zu bewegen, sollten Deutschland und Polen bei allen Interessenunterschieden und asymmetrischen Potentialen ein Muster für europäische Solidarität und eine rationale gemeinsame Ostpolitik darstellen. Das Gleiche trifft auf die „Östliche Partnerschaft“ mit der Ukraine, Moldawien, Georgien und Belarus zu.

3. Transatlantische Beziehungen
Deutschland wie Polen haben allen Grund, über die Distanz der neuen Administration in Washington gegenüber Europa beunruhigt zu sein. Gegen alle Thesen von einem Verlöschen der „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“ und ihrer Ersetzung durch eine „Streitgemeinschaft“ existiert nach wie vor ein großes gemeinsames Interesse – sowohl Deutschland als auch Polen sind an einer starken und zu gemeinsamem Handeln fähigen EU interessiert. Denn nur eine solche Union wird für die USA attraktiv sein. Für Deutschland und für Polen hat nicht nur die Solidarität der EU Priorität, sondern auch eine besser koordinierte Politik im Rahmen des NATO-Bündnisses.

4. Gemeinsame Energiepolitik
Die Probleme der Energiesicherheit gehören heute zu den größten Herausforderungen im globalen Rahmen, wobei sie eng mit der Klimapolitik verbunden sind. Die beiden Komplexe berühren auch zentrale Fragen in den deutsch-polnischen Beziehungen. Deutschland und Polen haben hier gemeinsame Interessen, wie zum Beispiel die Stärkung der Energiesicherheit der EU als Ganzes, und nehmen zugleich ganz unterschiedliche Haltungen zu einer so wesentlichen Frage wie der friedlichen Nutzung der Atomenergie ein. Dabei ist eine gemeinsame europäische Energiepolitik immer stärker mit der Ostpolitik der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Suche nach energiepolitischen Handlungsoptionen und der Expansion russischer Energiekonzerne in der gesamten Union (Deutschland, Bulgarien, Griechenland u.a.) verknüpft.

5. Zusammenarbeit in den europäischen Institutionen
In zunehmendem Maße werden die deutsch-polnischen Beziehungen von Entscheidungen in Brüssel beeinflusst. Sowohl im polnischen wie im deutschen Interesse liegt eine stärkere Präsenz Polens in dem neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Prestigefrage, sondern es geht um eine bessere Koordination der gemeinsamen EU-Außenpolitik, doch ebenso um deren bessere Darstellung in Polen – dem größten Land Ostmitteleuropas, das ein unmittelbarer Nachbar Russlands ist und sich mehrfach als Sprecher der Interessen der neuen EU-Mitglieder hervorgetan hat.

6. Deutsch-polnische Beziehungen bedürfen der Expertenarbeit
Die formellen und informellen Kontakte zwischen Politikern, hohen Ministerialbeamten und Parlamentsabgeordneten sind intensiv. Sie sollten jedoch inhaltlich reicher werden und sich stärker als bisher mit Themen von strategischer Bedeutung beschäftigen. Dazu bedarf es eines Mehr an gemeinsamer Arbeit der Think Tanks und Experten aus beiden Ländern und einer weiteren Verstärkung der Aktivitäten der Regierungsbevollmächtigten für die bilateralen Beziehungen.
Die deutsch-polnische Parlamentariergruppe sollte sich mehr als bisher der zunehmenden Rolle der nationalen Parlamente bei der Gestaltung des Gemeinschaftsrechts widmen sowie wachsam nicht nur die bilateralen Beziehungen verfolgen, sondern auch Tendenzen der „Renationalisierung“ entgegenwirken, der einige Interpretationen des Lissabonner Vertrags Vorschub leisten.

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Entgegen den Thesen von einer Erschöpfung der „Interessengemeinschaft“ und ihrer Ersetzung durch eine Streitgemeinschaft lohnt es sich, in der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft einen ernsthaften Dialog zu führen, der in konkrete gemeinsame Aktivitäten mündet, vor allem deshalb, weil sowohl Deutschland als auch Polen an einer starken und zu gemeinsamem Handeln fähigen EU interessiert sind. Es gilt die verbesserte Atmosphäre in den deutsch-polnischen Beziehungen zu nutzen und zu dem Anliegen der „Gründerväter“ aus der Zeit des historischen Umbruchs 1989 zurückzukehren. Für sie waren die deutsch-polnischen Beziehungen eines der Fundamente der Erweiterung des europäischen Integrationsraums. Dabei ist es wesentlich, dass Deutsche und Polen sich der Verpflichtung bewusst sind, gemeinsam die Herausforderungen anzunehmen, vor denen Europa in diesem Jahrhundert steht.

Das Projekt „Kopernikus-Gruppe“ wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.