Kopernikusgruppe

Mitteilung der Kopernikus-Gruppe

Der deutsch-polnische Gesprächskreis Kopernikus-Gruppe traf sich zu seiner einunddreißigsten Sitzung in Berlin. Das vorliegende Arbeitspapier fasst die gemeinsamen Überlegungen der Teilnehmer zum Thema der Sitzung „Russland-Ukraine-Europa - die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung“ und zu den Auswirkungen des seit einem guten Jahr andauernden Kriegs in der Ukraine zusammen.

Prof. Dr. Dieter Bingen, Darmstadt
Dr. Kazimierz Wóycicki, Warschau                                              1. Juli 2015

 

Arbeitspapier XXV
Deutschland und Polen gemeinsam. Empfehlungen zur europäischen Ostpolitik (Russland, Ukraine, östliche Partnerschaft)  


Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, dass die unterschiedlichen Bilder von der Geschichte der Ukraine und Ostmitteleuropas – insbesondere im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs – zu einem Spaltkeil werden, der die gemeinsame Haltung Deutschlands und Polens zum Ukrainekonflikt infrage stellt. Umso wichtiger wird es, sich des Wertes dieser gemeinsamen Herangehensweise bewusst zu sein, schließlich ist ein Regierungs- und Richtungswechsel in Polen nach den Wahlen im Herbst nicht auszuschließen. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der am Ende siegreiche Kandidat der PiS, Andrzej Duda, eine Korrektur in der polnischen Europapolitik angekündigt.

1. Deutsche und polnische Ukrainebilder
Wie Meinungsumfragen belegen, ist die in der Öffentlichkeit oft verbreitete Darstellung falsch, dass Polen und Deutsche stark kontrastierende Sichtweisen auf den Konflikt und Russlands Rolle darin haben – die Deutschen eher prorussische, die Polen eher proukrainische. In Wahrheit haben sich die Haltungen der Deutschen und der Polen bemerkenswert angenähert. Beide betrachten Russlands aggressives Vorgehen kritisch, zögern aber bei der Frage militärischer Hilfe für die Ukraine.

2. Die EU als Vermittlerin
Entscheidend für eine erfolgreiche Vermittlung ist das Zusammenspiel der Staaten des „Normandie-Formats“ (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) mit der EU und deren Mitgliedsstaaten. Die „Soft Power“ der EU ist beträchtlich; sie beruht auf ihrer Anziehungskraft. Das von den meisten Ukrainern gewünschte, aber von Moskau blockierte Assoziierungsabkommen führte zum revolutionären Protest des Euromajdan 2013/14. In der Praxis stützt sich die „Hard Power“ der EU vor allem auf die intergouvernementale Kooperation Deutschlands und Frankreichs - in Minsk verhandelten Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande. Sie verhalten sich aber nicht wie Großmächte des 19. Jahrhunderts, die auf eigene Faust handeln, sondern agieren auf der Basis einer weitgehend kohärenten Haltung der EU-Mitglieder. Die Autorität der EU verleiht Angela Merkel und Francois Hollande zusätzliches Gewicht, auch wenn sie ohne ein formales Vermittlungsmandat verhandeln.
Wir schlagen vor, zu den Gesprächen Merkels und Hollandes mit den Präsidenten Putin und Poroschenko den Präsidenten des Europäischen Rats hinzuzuziehen. Donald Tusk ist ein Vertreter der ehemaligen Staaten des Ostblocks, die in Folge der Revolutionen von 1989 in die euroatlantischen Strukturen aufgenommen wurden, und darüber hinaus das Symbol der Zusammenarbeit der Regierungen der EU-Mitglieder. Diese Einbeziehung des „EU-Präsidenten“ muss keine formale Änderung des „Normandie-Formats“ bedeuten.

3. Weimarer Dreieck und Normandie-Format
In den Gesprächen mit der Ukraine und Russland sollten die Sichtweisen und die Erfahrungen Ostmitteleuropas – und damit Polens – künftig stärkere Berücksichtigung finden als in den vergangenen Monaten, und dies unabhängig vom Ausgang der Wahlen in Polen. Man kann die Bundeskanzlerin – die in der DDR aufgewachsen ist – zwar auch als Sprecherin der „Neumitglieder“ betrachten. Es muss aber der Eindruck vermieden werden, dass Spitzenpolitiker Westeuropas mit Russland über die Köpfe der zwischen ihnen lebenden Nationen hinweg reden, wie das 2008 geschah, als der französische Präsident auf eigene Faust die faktische Teilung Georgiens akzeptierte und dies mit einem einträglichen Rüstungsgeschäft mit Russland verband. Eine bleibende Abkoppelung des Weimarer Dreiecks von den Verhandlungen über ostmitteleuropäische Angelegenheiten würde das gewachsene Vertrauen gefährden und Schaden anrichten, weil sie in Russland als Absicht missverstanden werden kann, dieses Dreieck bewusst zu ignorieren.   

4. Nato  und OSZE
Allein schon die Ankündigung, dass die USA Waffenlieferungen an die Ukraine erwägen, hat den Abschluss des Abkommens von Minsk befördert. Die Ukraine ist ein souveräner Staat und hat das Recht, um Hilfe bei der Modernisierung ihres Militärs zu bitten. Wegen der Konstellation des Krieges kann die Nato keine große Rolle bei der sicherheitspolitischen Lösung des Konflikts in der Ukraine spielen. Ihre Beistandsgarantie und deren sichtbare Bekräftigung durch gemeinsame Übungen ist aber von entscheidender Bedeutung für das Sicherheitsgefühl und damit die Stabilität in den Nachbarstaaten – von den Baltischen Staaten über Polen und die Slowakei bis nach Ungarn und Rumänien.
Für die Befriedung in der Ukraine ist die OSZE besser geeignet. Denn sie steht im Zentrum der europäischen Friedensordnung, die sich die europäischen Staaten gemeinsam mit der UdSSR in der Charta von Paris 1990 gegeben haben. 1994 wurde sie mit Russland bekräftigt. Sie ist der Maßstab, an dem alle OSZE-Staaten sich messen lassen müssen. Hinzu kommt das Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland die Grenzen der Ukraine garantiert hat und das es mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim gebrochen hat. Auch im Falle einer Beendigung des Krieges in der Ostukraine darf dieser Versuch einer gewaltsamen Grenzänderung keine Anerkennung finden.

5. Wahrnehmung der Geschichte
Der Umgang mit dem 70. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs ist ein Beleg dafür, dass Polen und Deutsche sich trotz der unterschiedlich gesetzten Schwerpunkte bei diesem Datum in ihrer Wahrnehmung der Geschichte angenähert haben. Das gilt auch für den historischen Blick auf den Ukrainekonflikt. Die Bundeskanzlerin ehrte in Russland die sowjetischen Opfer der deutschen Aggression, nahm aber nicht an der Militärparade in Moskau teil. In ihren öffentlichen Äußerungen lenkten die Spitzenvertreter Deutschlands die Aufmerksamkeit auch auf die Ukraine und auf die fatalen Folgen der Zusammenarbeit Hitlers und Stalins. Ihr „Teufelspakt“ vom August 1939 wurde sowohl in der Gedenkstunde im Bundestag als auch in den differenzierten Debatten in den deutschen Medien erwähnt. Die Redner betonten, dass die Entwicklung guter deutsch-russischer Beziehungen nie wieder über die Köpfe und auf Kosten der ostmitteleuropäischen Völker geschehen dürfe. Es ist zu wünschen, dass diese Linie des deutschen Umgangs mit der Geschichte im polnischen Wahlkampf zum Sejm im Herbst gewürdigt wird.

6. Die labile östliche Partnerschaft
Polen und Deutschland stehen vor der schweren Aufgabe, die östliche Partnerschaft der EU zu bewahren und zu stärken. Dabei gilt es, im Kopf zu behalten, dass unverzichtbare und tiefgreifende Reformen der Institutionen in den Ländern dieser Partnerschaft viel schwerer zu erreichen sind als in Transformationsstaaten wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei in den Jahren nach den friedlichen Revolutionen von 1989. Deren Systemwechsel in den 1990er Jahren wurde weder durch einen imperialen Revisionismus Russlands bedroht noch durch die Enttäuschung über eine explosiv wachsende soziale Ungleichheit. Westeuropa interessiert sich heute zudem weniger als damals für Ostmitteleuropa, da es von seinen eigenen Wirtschaftsproblemen und der Migrationswelle aus Nordafrika erschüttert wird. Auch die Enttäuschung über die zögerlichen Reformen in den Balkanstaaten spielt eine Rolle. Gleichwohl gehört es zu den gemeinsamen deutsch-polnischen Interessen und Pflichten, der Ukraine, Georgien und Moldau durch die östliche Nachbarschaft zu helfen, auch wenn alle EU-Staaten gleichzeitig durch die ungelöste Griechenlandkrise und das britische EU-Referendum gefordert werden. Durch den Gipfel in Riga hat die EU zwar Zeit erkauft, aber gefragt ist hier vielmehr ein neuer strategischer Ansatz, der die Unterschiedlichkeit der Länder der östlichen Partnerschaft berücksichtigt.