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Deutschland und Polen: Wir brauchen mutige Stimmen!

Aufruf der deutsch-polnischen Kopernikus-Gruppe gegen den Fatalismus der Gleichgültigkeit

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Wir brauchen mutige Stimmen, um den deutsch-polnischen Dialog neu zu beleben: Die deutsch-polnische Kopernikus-Gruppe ruft Politikerinnen und Politiker sowie Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler aus beiden Ländern dazu auf, sich ein Herz zu fassen und öffentlich der Destruktion des Dialogs entgegenzutreten. Es reicht nicht aus, abzuwarten. In unseren Beziehungen darf es keinen Fatalismus der Gleichgültigkeit geben.

 Eine Persönlichkeit, die nie gleichgültig geblieben ist, war Władysław Bartoszewski. Am 19. Februar 2022 jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. Er erlebte die Grausamkeit und die Demütigungen im deutschen Konzentrationslager Auschwitz und war Zeuge der Zerstörung seiner Heimatstadt Warschau. Bereits seit Mitte der 1960er-Jahre setzte er sich unermüdlich für den deutsch-polnischen Dialog ein: zunächst als Publizist und Hochschullehrer, dann als Diplomat und Politiker. Er tat dies auf der Grundlage christlicher und universeller Werte der Versöhnung, geprägt von politischer Reife. In einer Zeit, in der auf beiden Seiten Feindseligkeit herrschte, hatte Władysław Bartoszewski den außerordentlichen Mut, sich in Polen und Deutschland öffentlich für den Aufbau gereifter und partnerschaftlicher Beziehungen zwischen unseren Völkern und Staaten einzusetzen. Im deutsch-polnischen Dialog sah er ein wichtiges Fundament für ein friedliches Zusammenleben in Europa.

 Persönlichkeiten wie Władysław Bartoszewski haben wir es zu verdanken, dass unsere bilateralen Beziehungen der letzten drei Jahrzehnte, die weitgehend auf der Grundlage einer deutsch-polnischen Werte- und Interessensgemeinschaft gestaltet wurden, von vielen Erfolgen geprägt sind. Natürlich gab es in diesem Dialog auch Misserfolge. Bei der Bewertung der polnisch-deutschen Beziehungen ist es jedoch sinnvoll zu bedenken, dass Polen und Deutschland politisch, strategisch, geopolitisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell in weitaus größerem Maße aufeinander angewiesen sind, als es die aktuellen Debatten in Medien und Politik nahelegen. Leider vergessen wir zu oft, das auch öffentlich immer wieder hervorzuheben. Die beunruhigende Situation jenseits der Ostgrenze der Europäischen Union zeigt einmal mehr, dass Polen und Deutschland für ihre eigene Sicherheit und die der EU gemeinsam handeln müssen. Die Verankerung dieser Denkweise in der polnischen und deutschen Außenpolitik ist einer der größten Erfolge des deutsch-polnischen Dialogs. Das gegenseitige Vertrauen in dieser Hinsicht muss weiter gepflegt und gestärkt werden, insbesondere angesichts der unterschiedlichen Einschätzungen dazu, welche Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit in der Region geeignet sind.

 Die Art und Weise, wie Polen und Deutschland ihre gegenseitigen Beziehungen gestalten, hängt vor allem von der Dynamik der inneren Umstände in unseren Ländern ab. Umso wichtiger sind daher der politische Mut und der Weitblick jener Politiker, Intellektuellen, Künstler, Publizisten und gesellschaftlichen Akteuren, die den Versuch unternehmen, die Beweggründe für das Handeln ihrer Nachbarn auch zu verstehen und zu erklären, statt sie nur zu bewerten. Das Potenzial des deutsch-polnischen Dialogs zu ignorieren oder ihn für kurzlebige innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren, führt zu nichts und trägt darüber hinaus dazu bei, die europäische Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern.

 Und auch wenn der deutsch-polnische Dialog in der Berichterstattung der Medien eher als Konflikt- oder Divergenzgemeinschaft dargestellt wird, müssen wir uns bewusst sein, wie produktiv die Spannungen in den gegenseitigen Beziehungen Polen und Deutschland verändert haben. Sowohl im Bereich der Erinnerungskultur als auch in anderen Bereichen wie im Jugendaustausch, in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, in zahlreichen Kommunalpartnerschaften oder im wirtschaftlichen Austausch. Zehntausende Menschen engagieren sich in Deutschland und Polen Tag für Tag für diesen Dialog. Es sind greifbare Beweise für den Erfolg der deutsch-polnischen Zusammenarbeit.

 Eine besondere Herausforderung in unserem Dialog bleibt die Geschichte. Die Art und Weise, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert haben, gehört zu den Erfahrungen, die unsere deutsch-polnische Nachbarschaft verändert haben: Wir haben voneinander und übereinander gelernt und uns auch auf schwierige Themen eingelassen. Dazu gehören komplexe Meinungsbildungsprozesse u. a. zur Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht in Polen, zur Entstehung des Deutsch-Polnischen Schulbuchs, zum „Dokumentationszentrum Flucht und Vertreibung“ in Berlin in seiner heutigen Gestalt, zu einem „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“, wie er vom Bundestag im Herbst 2020 beschlossen worden ist.

 Zum Alltag deutsch-polnischer Beziehungen gehören die lautlose Arbeit von Bildungs- und Begegnungsstätten, Wanderausstellungen und die Veröffentlichung tausender Publikationen. Es ist normal, dass jede Generation andere und neue Fragen an die Geschichte stellt. Themen, die eben noch sachlich diskutiert wurden, lassen uns plötzlich wieder emotional werden. Wenn etwa Persönlichkeiten, die sich aufrichtig für den Dialog zwischen unseren beiden Gesellschaften einsetzen, durch Vergleiche mit nationalsozialistischen Tätern diffamiert werden, zum Beispiel auf Plakaten im Straßenbild von Warschau, so ist eine Grenze überschritten. Die seit Jahrzehnten geltenden ungeschriebenen Regeln des Anstandes im gegenseitigen Umgang scheinen nicht mehr zu gelten. Das demonstrative Beharren auf Kriegsreparationen als Vorbedingung einer weiteren Verständigung nimmt billigend in Kauf, dass die Meilensteine deutsch-polnischer Annäherung und Verständigung öffentlich negiert werden. Wenn Trauer und Wut über das fehlende Eingeständnis deutscher Verbrechen, die in Polen und an der polnischen Gesellschaft begangen wurden, auf diese Weise ausgedrückt werden, so kann uns das nicht gleichgültig sein. Wir sollten den Mut aufbringen, eine sachliche Diskussion zu führen.

 Wir rufen alle Akteurinnen und Akteure in den deutsch-polnischen Beziehungen auf: Verzagt nicht! Lasst Euch nicht beirren von den fortwährenden Versuchen, Euer Werk gering zu schätzen. Ihr seid die wahren Baumeister Europas, denn nur aus verständnisvollen, engen bilateralen Beziehungen kann unser großes europäisches Projekt, dieses komplexe Gebilde aus Staaten und Mentalitäten, aus Geschichten und Gedanken weiter wachsen.

 Wir appellieren an Außenministerin Annalena Baerbock und Außenminister Zbigniew Rau, sich dafür einzusetzen, die bestehenden, allerdings seit Jahren nicht mehr genutzten Formate des deutsch-polnischen Dialogs wieder aufleben zu lassen: die Regierungskonsultationen, die deutsch-polnischen Parlamentarierbegegnungen, das Deutsch-Polnische Forum oder auch den Deutsch-Polnischen Preis.

 Wir appellieren an alle Akteurinnen und Akteure des öffentlichen Lebens, mutig gegen die Versuche aufzutreten, unsere Nachbarschaft schlechtzureden. Denken wir an die Worte von Władysław Bartoszewski: „Es lohnt sich, anständig zu sein!“ Deshalb dürfen wir nicht gleichgültig bleiben gegenüber Stimmen, die unsere Beziehungen gefährden.

 Darmstadt, Kreisau, Warschau, im Februar 2022

 

 Kontakt:

Prof. Dr. Peter Oliver Loew, deutscher Ko-Vorsitzender der Kopernikus-Gruppe (loew@dpi-da.de)

Prof. Dr. Waldemar Czachur, polnischer Ko-Vorsitzender der Kopernikus-Gruppe (waldemar.czachur@uw.edu.pl)

 

Zur Kopernikus-Gruppe siehe: https://www.deutsches-polen-institut.de/politik/kopernikus-gruppe/