der fremde

Band Nr. 13

Der Fremde als Nachbar

Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz. Texte seit 1800

Inhalt

"Mit ihnen ist es schwierig – ohne sie ist es langweilig." So brachte die gebildete polnische Gesellschaft das polnisch-jüdische Verhältnis in den 1930er Jahren auf den Punkt. Der vorliegende Band zeichnet die Wahrnehmung der jüdischen Präsenz in Polen aus nichtjüdischer Perspektive in Haupt- und Nebenlinien über 200 Jahre nach.
Abgesehen von Stimmen, die für Verständnis und Miteinander werben, kommen auch eher skeptische Autoren zu Wort. Die Texte zeigen, wie leidenschaftlich in Polen über die jüdische Nachbarschaft diskutiert wurde. Schließlich waren in Polen die lebensweltlichen Begegnungen mit Juden meist sehr viel intensiver, als dies in anderen europäischen Regionen der Fall gewesen ist.
Die sozialen, politischen und kulturellen Hintergründe der in dieser Anthologie vertretenen Autoren sind denkbar weit gestreut. Sie gehören dem Adel, der Kirche, dem Bürgertum, den verschiedenen politischen Bewegungen an, viele setzten sich in den mehr als hundert Jahren, in denen Polen geteilt war, für seine Unabhängigkeit ein, sie waren Journalisten, Schriftsteller und Pädagogen, Angehörige der Verwaltungs- und Bildungseliten, beteiligten sich am Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, sind Angehörige der Emigration und der Opposition – und einer war Papst.

François Guesnet lehrt am University College London jüdische Geschichte der Neuzeit. Nach dem Studium der Osteuropäischen Geschichte, Romanistik und Slawistik, das er unter anderem in Warschau absolvierte, promovierte er an der Universität Freiburg i. Br. Forschungsaufenthalte in Polen, Israel und in den USA. Zahlreiche Fachveröffentlichungen zur jüdischen Geschichte im östlichen Europa im allgemeinen und in Polen im besonderen.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsübersicht
Vorbemerkung des Herausgebers
Einleitung

1. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts
Einführung
Tadeusz Czacki: Abhandlung über die Juden und Karäer
Wawrzyniec Surowiecki: Vom Niedergang und Verfall der Städte in Polen
Walerian Łukasiński: Bemerkungen eines Offiziers über die anerkannte Notwendigkeit einer Regelung der Juden in unserem Land und über einige hierzu jetzt erschienene Schriften
Jozef Ignacy Kraszewski: Erinnerungen aus Wolhynien und Polesien
Adam Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände. Viertes Jahr, Vorlesung XIII
Adam Mickiewicz: Ordnung des Dienstes in der Synagoge
Adam Mickiewicz: Zusammenstellung der Regeln
Zygmunt Krasiński: Brief an Delfina Potocka
Andreas Moraczewski: Sendschreiben an Herrn Heinrich Wuttke die polnische Frage betreffend
Teofil Lenartowicz: Der Schrei des alten Israel
Walerian Kalinka: Die Bevölkerung
Henryk Schmitt: Blick auf ein neues Projekt zur uneingeschränkten Gleichberechtigung der Juden

2. Vom „Jüdischen Krieg“ 1859 bis zum Wendejahr 1881
Einführung
Jozef Kenig: Konzertkritik
Antoni Lesznowski: Flugschrift zur Judenfrage
Antoni Lesznowski: Brief an Jozef Ignacy Kraszewski
Konstanty Pathie: Brief an Jozef Ignacy Kraszewski
Teofil Lenartowicz: Drei Briefe an Jozef Ignacy Kraszewski
Jozef Ignacy Kraszewski: Drei Briefe an Kajetan Kraszewski
Joachim Lelewel: Der Judenprozess im Jahre 1859
Aleksander Graf Wielopolski: Die Vergabe von Rechten an die Juden
Cyprian Norwid: Die polnischen Juden
Eliza Orzeszkowa: Brief an Jozef Sikorski
Bolesław Prus: Chroniken
Jan Jeleński: Die Juden, die Deutschen und wir

3. Vom Warschauer Pogrom bis zur Zweiten Republik (1881-1918)
Einführung
Eliza Orzeszkowa: Brief an Leopold Méyet
Eliza Orzeszkowa: Brief an Jadwiga Krauzharowa
Bolesław Prus: Juli
Statt einer Chronik
Zu den Ereignissen von Warschau
Eliza Orzeszkowa: Über die Juden und die jüdische Frage
Bolesław Prus: Korrespondenz aus Warschau
Bolesław Prus: Chronik vom 5. Dezember 1889
Klemens Junosza-Szaniawski: Der jüdische Don Quichotte. Skizze zur jiddischen Literatur
Walerian Kalinka: Die Juden und die Käuflichkeit der Russen
Kazimierz Kelles-Krauz: Zur Frage der jüdischen Nationalität
Roman Dmowski: Gedanken eines modernen Polen
Eliza Orzeszkowa: Brief an Leopold Méyet
Berek Joselowicz und die Litwaken. Ein anonymes Gedicht
Teodor Jeske-Choiński: Die polnischen Konvertiten. Historische Materialien
Eliza Orzeszkowa: Über den jüdischen Nationalismus
Zygmunt Balicki: Der apolitische Einfluß der Juden
Jozef Lange: Nationalismus und Antisemitismus
Antoni Chołoniewski: Der Geist der Geschichte Polens

4. In der Zweiten Republik (1918-1939)
Einführung
Ignacy Paderewski: Ansprache an Vertreter jüdischer Organisationen in den Vereinigten Staaten
Denkschrift der polnischen Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz, Juni 1919
Jan Niecisław Baudouin de Courtenay: Die polnische Staatlichkeit und die Juden in Polen
Jan Niecisław Baudouin de Courtenay: Der Antisemitismus und die Universitäten in Polen
Adolf Nowaczynski: Konstancin genumen
Rudolf Korsch: Die jüdischen umstürzlerischen Gruppen in Polen
Bohdan Wasiutyński: Die jüdische Bevölkerung in Polen im 19. und 20. Jahrhundert. Statistische Studie
Ksawery Pruszyński: Palästina – ein drittes Mal
Roman Dmowski: Die Judenfrage
Konstanty Ildefons Gałczyński: An die Freunde von Prosto z mostu
Stefania Sempolowska: Gespräch über das Bankghetto

5. Krieg, Besatzung, Völkermord (1939-1944)
Einführung
Tadeusz Kiersnowski: Pro Memoria
Zofia Kossak-Szczucka: Die Prophezeiungen erfüllen sich
Irena Sendlerowa: Erinnerung an die Judenhilfsaktion
Vier Texte des polnischen Widerstands über die Juden

6. Zwischen Neuanfang und real existierendem Antisemitismus (1945-1968)
Einführung
Kazimierz Wierzyński: An die Juden
Stanisław Vincenz: Das polnisch-jüdische Drama
Witold Gombrowicz: Aus dem Tagebuch
Umfrage der Kultura
Konstanty Aleksander Jeleński: Von den Nationaldemokraten zu den Stalinisten
Maria Czapska: Zur Antwort auf Herrn Redakteur Turowicz
Stanisław Vincenz: Lemberger Kosmopoliten
Konstanty Ildefons Gałczyński: Jüdisches Kind
Antoni Słonimski: Elegie auf die polnischen Schtetl

7. Stagnation, Aufbruch und neue Perspektiven seit 1968
Einführung
Drei Dokumente aus dem Jahr 1968
Maria Czapska: Der Ghettoaufstand
Jozef Orlicki: Skizzen aus der Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen. Die ersten Jahre
nach dem Krieg
Ewa Świderska: Gesellschaftliche und kulturelle Tendenzen unter den polnischen Juden
im 19. Jahrhundert
Stefan Wilkanowicz: Antisemitismus, Patriotismus, Christentum
Jan Bloński: Die armen Polen schauen auf das Ghetto
Jerzy Tomaszewski: Nicht nur der Polen Vaterland
Andrzej Romanowski: Die armen Polen sehen sich an
Jan Jozef Lipski: Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen
Johannes Paul II.: Vier Texte zur polnisch-jüdischen Geschichte
Stanisław Musiał: Schwarz ist schwarz
Maria Janion: Mickiewicz – ein moderner Religionsdenker. Gespräch mit Jacek Fiałkowski
und Marian Stala
Marta Kurkowska-Budzan: Mein Jedwabne

Anhang
Zu den Autoren und ihren Texten
Personenverzeichnis
Inhaltsverzeichnis

Rezensionen

"Die knapp einhundert Originaltexte, die der Historiker François Guesnet zusammengestellt hat, sind nach Epochen geordnet und mit knappen informativen Einführungstexten sowie umfangreichen Literaturhinweisen versehen; sie fassen die bedeutendsten innenpolnischen Debatten über das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerungsgruppe seit 1800 zusammen. Sie dokumentieren eindrucksvoll die Gegensätze und die Vielfalt der Standpunkte - bis hin zu der nach der Wende einsetzenden, bis heute nicht abklingenden Kontroverse über Formen und Ausmaß des polnischen Antisemitismus einschließlich einer Mitverantwortung für den Holocaust.
'Der Fremde als Nachbar' bietet ein solides, ganz der Aufklärung verpflichtetes Fundament für das Verständnis des polnisch-jüdischen Verhältnisses in den letzen zwei Jahrhunderten - ein grundlegendes Werk auch für deutschsprachige Leser."
Martin Sander in: Deutschlandradio Kultur, 14.1.2010 (Zur vollständigen Rezension)

"Obwohl 'Der Fremde als Nachbar' in erster Linie an ein akademisches Publikum gerichtet ist, bietet die Anthologie ebenso jenem Leser, der sich für polnisch-jüdische Geschichte und Antisemitismus im europäischen Vergleich interessiert, eine spannende und erhellende Lektüre. Die bemerkenswert vielfältige Textauswahl zeigt den schwierigen und oft widersprüchlichen Umgang der nichtjüdisch-polnischen Mehrheitsbevölkerung mit 'ihren Juden' auf. Und: Die Texte führen dem Leser dabei auch vor Augen, dass es wesentliche Unterschiede zwischen polnischer und deutscher Wahrnehmung des jüdischen 'Anderen' gab."
Stefanie Neumeister in: Jüdische Zeitung 2 (48) Februar 2010

 

"Polen ist das europäische Land, in dem bis zum Zweiten Weltkrieg die meisten Juden lebten. Nun liegt ein Buch vor, das diese jüdische Präsenz aus polnischer Sicht beleuchtet. (...) eine beachtenswerte Publikation (...)."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2010