Fruehling2021

Frühling 2021 © K. Walczyk

Literarisches Portrait

Zu jeder Jahreszeit stellen wir Ihnen wichtige polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, deren Werke  in Originalsprache   und in deutscher Übersetzung in der Bibliothek  ausgeliehen werden können.

In der Navigation finden Sie ältere Literarische Portraits.

Frühling 2021

Tadeusz Różewicz (1921-2014)

 Tadeusz Różewicz – ein polnischer  Dichter, Regisseur, Schriftsteller, Satiriker und Übersetzer der ungarischen Poesie. Einer der vielseitigsten und kreativsten Kontinuatoren der polnischen und internationalen Avantgarde.

 Rückkehr 1)

Es gibt unter meinen gedichten solche
mit denen ich mich nicht aussöhnen kann
jahre vergehen
ich kann mich mit ihnen nicht aussöhnen
und auch nicht freisprechen von ihnen
sie sind schlecht aber mein
ich habe sie geboren
sie leben fern von mir
gleichgültig abgestorben
aber es kommt die zeit da sie alle
zu mir zurückkehren werden
die gelungenen die mißlungenen
die entstellten und die vollendeten
die verlachten und die verworfenen
als einheit

 

Tadeusz Różewicz ©   Michał Kobyliński   (wikimedia commons)

 Der am 9. Oktober 1921 in der zentralpolnischen Kleinstadt Radomsko als Sohn eines Gerichtsbeamten geborene Tadeusz Różewicz gehört zu den repräsentativen Klassikern der polnischen Nachkriegsliteratur. Die Sprache der verklärenden Romantik, welche typisch für die ältere Generation der polnischen Literaten vor dem Krieg war, war ihm fremd, unzeitgemäß und nicht mehr stellvertretend für die desillusionierte Nachkriegsgesellschaft, welche vor den Trümmern der alten Welt stand. Ebenso wie sich die Welt nun neu erfinden musste, so sollte dies ihm zufolge auch für das Literarische und Poetische gelten.

Różewicz rebellierte dagegen, dass die Poesie das Ende der Welt überlebt habe, als wäre nichts geschehen. 2) Er plädierte für einen Neuanfang, für eine Neuausrichtung der Poesie, frei von metaphorischer Sprache: „Wir lernten das Sprechen von Anfang an […] Nur ein verzweifelter oder infantiler Mensch kann mit Hilfe ausgesuchter Bilder ‚die Schönheit‘ beschreiben, wo vor unseren Augen die Wahrheit stirbt.“ 3) . Die Lyrik müsse sterben, um wiederauferstehen zu können. 4) Ähnlich wie der Maler vor einer leeren Leinwand zeichnet er die Poesie neu, gibt ihr eine neue Form. Der Sprachlosigkeit der Kriegszeugen stellt er eine neue, schnörkellose Sprache entgegen. Durch Różewicz wird die Lyrik zur „Poesie für Entsetzte“. 5)

Schon während seiner Zeit am Gymnasium, welches er bis 1938 besuchte, erschienen seine ersten Gedichte in Schüler- und Jugendzeitschriften. Mit dem Überfall der Deutschen auf Polen begann 1939 der Zweite Weltkrieg. Nach Kriegsausbruch verdiente Różewicz seinen Lebensunterhalt mit mancherlei Nebentätigkeiten. Er schrieb für die Untergrundpresse, absolvierte 1942 einen Kadettenlehrgang der Heimatarmee und sympathisierte 1943/44 mit dem polnischen Widerstand. In dieser Zeit veröffentlichte er das als eigentliches künstlerisches Debut geltende konspirative Bändchen „Echa Leśne“ („Waldechos“), in dem er in Gedichten und Prosaskizzen den bewaffneten Kampf gegen die deutsche Besatzung dokumentierte. Hier begegnet man den jungen Poeten, beeinflusst vom erhabenen Freiheitskampf, fest im Glauben an die Wiedergeburt Polens und dessen Kultur. Im November 1944 verliert Różewicz seinen Bruder Janusz, welcher ebenfalls im Widerstand dient und von den Deutschen verhaftet und erschossen wird.

Nach dem Krieg holt Różewicz in Tschenstoschau seine Reifeprüfung nach und studiert in Krakau Kunstgeschichte. Die Wahl sei kein Zufall gewesen, so erinnert sich der Künstler an seine Krakauer Studienjahre, in denen er die Liebe zur zerstörten Marienbasilika fand.

„Ich schrieb mich in Kunstgeschichte ein, um diesen gotischen Tempel wiederaufzubauen. Um die Kirche Ziegel für Ziegel zu errichten. Um Element für Element den Menschen zu rekonstruieren. Dies war untrennbar miteinander verbunden. […] In jener Zeit lebten in mir so etwas wie zwei Charaktere. In einem fand sich die Bewunderung und die Wertschätzung für die ‚schönen‘ Künste wieder, für die Musik, die Literatur und die Poesie… im anderen der Argwohn gegenüber allen Künsten. […] Ich spürte, dass sowohl für mich als auch für die Menschheit etwas gestorben war. Etwas, das weder die Religion, noch die Wissenschaft oder die Kunst bewahren konnte…“ 6)

Sein Studium der Kunstgeschichte beendete Różewicz nie. Stattdessen wendete er sich der Literatur und Dichtkunst zu. 1947 veröffentlichte er den Gedichtband „Niepokój“ („Formen der Unruhe“), in dem er die Zwiespältigkeit seiner Gedankenwelt und die Verbitterung der Nachkriegsgeneration wie auch seiner Eigenen in Worte zu fassen versuchte. Als Skeptiker, allen schönen Worten, die sich als leere Hülsen erwiesen hatten misstrauend, suchte er in den einfachsten Begriffen ein neues Wertesystem aufzubauen, welches die außer Kraft gesetzten, alten Moralvorstellungen ersetzen sollte. Diese Art Selbstheilung, diese Suche nach einem neuen Lebenssinn, führte er 1948 im Folgeband „Czerwona rękawiczka“ („Roter Handschuh“) fort.  7) Beide Gedichtbände riefen in der Dichterszene einen Aufschrei hervor.

Von der Stalinisierung des polnischen Kulturlebens tief verbittert, zog sich Różewicz 1950 ins schlesische Gleiwitz zurück, abgeschnitten vom öffentlichen Leben und den Stimmen der Kritiker. Zur gleichen Zeit begann sich in diesem ersten Nachkriegsjahrzehnt in Różewiczs Werk nach und nach eine neue Schaffensperiode anzudeuten. Fortan richtete er seine Kritik auf die Kultur der Massengesellschaft, die gegenseitige Entfremdung, die damit einhergehende Selbstisolierung und den Verfall alter, tradierter Werte. Für den unbarmherzigen Kritiker einer Zivilisation ohne authentische Werte ist alles was bleibt ein scheinbar unterschiedsloses Dasein in einer sinnentleerten Moderne:

Wir bewegen uns
bewegen uns rasch
eilen
immer schneller
und schneller
kreisen
im kreis
ohne mitte
es gibt viele häuser die stehen
aber es gibt
keine mitte
es gibt viele wege die führen
aber sie führen zu keiner mitte 8)

Exemplarisch für diese Sinnlosigkeit steht auch Różewiczs erstes und bekanntestes Stück „Kartoteka“ („Die Kartei“) (1960), in dem der auch als Dramaturg schaffende Künstler in willkürlicher Form und Reihenfolge die unterschiedlichsten biographischen Daten des Protagonisten präsentiert. Für ihn, ebenso wie für die Kriegsgeneration, hat das Leben keinen festen Rahmen mehr. Nichts lässt sich mehr zu einem idealen Ganzen zusammensetzen. Das Leben erscheint als Collage einzelner Bilder, Segmente, Fetzen.
Das Motiv der Entzauberung durch den Skeptiker findet sich auch in Tadeusz Różewiczs späteren Werken wieder. In seinem 1979 vollendeten, autobiographisch geprägtem Bühnenstück „Do Piachu“ („Ins Gras…“), an welchem der Autor mehrere Jahrzehnte arbeitete und welches in Veteranenkreisen auf große Ablehnung stieß, verarbeitete er seine Erfahrungen der Besatzungszeit: Ungeschminkt und ohne Pathos verweist er auf die Fragwürdigkeit, den Schmutz und die Brutalität des Lebens in den Wäldern. Die Reste seiner jugendlichen Ver-klärtheit streift der gereifte Künstler ab. Was bleibt ist ein kühler und nüchterner, fast existenzialistischer Blick auf das Ganze. Als Schilderungen eines teilnahmelosen Beobachters er-scheinen seine Poeme, jedweder Emotionalität beraubt.

Mars 9)

Zimmer

Darin sitzt
Eine familie
Fünf oder sechs personen

jemand liest ein buch
jemand betrachtet fotos
jemand erinnert sich an den krieg
jemand schläft jemand geht aus
Jemand stirbt in der stille
jemand trinkt wasser
jemand bricht das brot
Janek schreibt den buchstaben A
zeichnet einen ritter mit blauem sporn
jemand startet zum mond
jemand brachte eine rose einen vogel einen fisch
schnee fällt
glocken schlagen

Mars tritt ein
das schwert
erfüllt das zimmer
mit feuer

Seit den späten 1960er Jahren setzte sich Tadeusz Różewicz mit Themen, wie der ökologische Krise und der steigenden Anzahl der Weltbevölkerung auseinander. In Werken wie der Parabel „Stara Kobieta wysiaduje“ („Eine alte Frau brütet“) (1968) zeichnet er die globale Vision der drohenden Selbstzerstörung der Menschheit nach. 10) Der Künstler zeigt sich hier als Mahner, Kritiker und letztlich als Visionär einer drohenden, selbstverschuldeten Urkatastrophe.

Tadeusz Różewicz wurde Zeit seines Lebens mit zahlreichen Literaturpreisen und Auszeichnungen geehrt, unter anderem 1955 mit dem polnischen Staatspreis, 1959 mit dem Literatur-preis der Stadt Krakau, 1959 mit dem Preis Erster Klasse des polnischen Kulturministers; 1982 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 1998 mit dem Samuel-Bogumil-Linde-Preis der beiden Städte Thorn und Göttingen. Bis zuletzt galt er als Kandidat für den Literaturnobelpreis. Er starb am 24. April 2014 im Alter von 92 Jahren in Breslau.

Der polnische Sejm hat das Jahr 2021 zum Jahr von Tadeusz Różewicz ausgerufen um seinen 100 Geburtstag zu würdigen.

 

 1) Tadeusz Różewicz: Gedichte. Stücke. Frankfurt/Main 1983, S. 87.
2) Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik 1. Ü.: Karl Dedecius. Hamburg: Rowohlt 1966, S. 416 ff.
3) Ebd.
4) Tadeusz Różewicz- Schattenspiele. Gedichte 1945-1969. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius. München 1979, S. 6.
5) Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik 1. Ü.: Karl Dedecius. Hamburg: Rowohlt 1966, S. 416 ff.
6) Tadeusz Różewicz: Poezje wybrane. Warszawa 1967, S. 6f. Übersetzt durch den Verfasser.
7) Tadeusz Różewicz. In: Porträts. Lebensläufe, Werkbeschreibungen, Bibliographien (Panorama der Polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Karl Dedecius. Deutsches Polen-Institut. Zürich 2000), S. 750.
8) Tadeusz Różewicz: Wir bewegen uns… (1956) In: Poesie. Gedichte, Fragmente aus Versdramen und poetischer Prosa von 100 Autoren in 2 Bänden, Bd. 1 (Panorama der Polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Karl Dedecius. Deutsches Polen-Institut. Zürich 1996), S. 817.
9) Tadeusz Różewicz: Gedichte. Stücke. Frankfurt/Main 1983, S. 102.
10) Tadeusz Różewicz. In: Porträts. Lebensläufe, Werkbeschreibungen, Bibliographien (Panorama der Polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Karl Dedecius. Deutsches Polen-Institut. Zürich 2000), S. 752.

Zu jeder Jahreszeit stellen wir Ihnen wichtige polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, deren Werke  in Originalsprache   und in deutscher Übersetzung in der Bibliothek  ausgeliehen werden können.

In der Navigation finden Sie ältere Literarische Portraits.

Tadeusz Różewicz

Ausgewählte Werke:

Tadeusz Różewicz ; Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Bernhard Hartmann und Alois Woldan

Unser älterer Bruder. Eine Text-Collage

Wiesbaden : Harrassowitz Verlag, 2021

Reihe: Polnische Profile ; Band Nr. 11

ISBN: 978-3-447-11610-7 ; 3-447-11610-2

Unsere Signatur: D 4 Róż/Un

 

Mehr dazu finden Sie   hier

 

Tadeusz Różewicz. Hrsg. von Karl Dedecius. [Die Stücke übersetzte Ilka Boll, die Gedichte Karl Dedecius aus dem Polnischen]

Gedichte. Stücke

Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1983

ISBN:  3-518-04524-5 ; 3-51804524-5

Unsere Signatur: U pd Róż/Ge

 

Mehr dazu finden Sie   hier

 
Tadeusz Różewicz. Aus dem Polnischen von Jolanta Doschek. Hrsg. von Bernhard Hartmann. Mit einem Nachwort von German Ritz
Mutter geht

Originaltitel: Matka odchodzi

Passau : Stutz, 2009

ISBN:  978-3-888-49132-0

Unsere Signatur:  U pd Róż/M

 Covertext:

Mutter geht ist ein Buch der Erinnerung. Tadeusz Różewicz hat eigene Texte, Lyrik und teils bislang unveröffentlichte Prosa mit Texten seiner Mutter Stefania Różewicz und seiner Brüder Janusz und Stanisław zu einem sehr persönlichen Buch zusammengestellt.

 

Tadeusz Różewicz. Übertragen von Karl Dedecius
Niepokój / Formen der Unruhe

Wrocław : Wydawn. Dolnośląskie, 1999

ISBN:   83-7023-675-8

Unsere Signatur: U pd Róż/N

 

 

Tadeusz Różewicz. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius
Schattenspiele

München : Heyne, 1979

ISBN:   3-453-85007-6

Unsere Signatur: U pd Róż/Sc

Covertext:

Tadeusz Różewicz repräsentiert wie kaum ein anderer die polnische Nachkriegslyrik. Diese Auswahl ermöglicht es auch den deutschen Lesern, ein Werk kennenzulernen, das für unsere Zeit charakteristisch ist.

"Man hat die Lyrik auf der Jagd nach Originalität und Unwiederholbarkeit lächerlich gemacht, aus ihr ein Kinderspielzeug, ein avantgardistisches Kalb mit zwei Köpfen gebastelt. Also mußte man das alles begraben und die Erde darüber festtreten. Es half keine künstliche Atmung, keine Manipulation. Die Lyrik mußte, um wiederauferstehen zu können, sterben"  Tadeusz Różewicz

Tadeusz Różewicz. Übersetzt von Karl Dedecius
Nauka chodzenia = gehen lernen

Wrocław : Biuro Literackie, 2007

ISBN:   978-83-60602-49-2 ; 978-3-940310-15-6 ; 3-940310-15-8

Unsere Signatur: U pd Róż/Na

 

 

 

 

Tadeusz Różewicz und die Deutschen

Wiesbaden : Harrassowitz, 2003

ISBN:  3-447-04814-X

Serie: Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt ; Band Nr. 17

Unsere Signatur: D 4 Róż/L-2

 

 Mehr dazu finden Sie   hier.

 

 

 

 

oprac. Jan Stolarczyk
Wbrew sobie : rozmowy z Tadeuszem Różewiczem

Wrocław : Biuro Literackie, 2011

ISBN:  978-83-62006-91-5

Unsere Signatur: D 4 Róż/St

Covertext (auf Polnisch):

Pierwszy książkowy zbiór wywiadów prasowych Tadeusza Różewicza i publikowanych jego rozmó z przyjaciółmi. Zestawiony został  w układzie chronologicznym i obejmuje teksty krajowe oraz zagraniczne, które w przekładzie ukazały się na łamach polskich czasopism. Dlaczego poeta nazwał ten obszerny tom Wbrew sobie? Znany jest niechętny jego stosunek do mediów, wynikający z rzeczowości i poczucia odpowiedzialności za słowo. Pan Tadeusz powiada: "Czytając nasze gazety, odnosi się wrażenie, że często mówienie wyprzedza myślenie". I apeluje, aby czytać jego utwory ze zrozumieniem, a wtedy niekonieczna stanie się (czcza) rozmowa.

Blisko pięciusetstronicowa księga stanowi wielowymiarową kartotekę autoświadomości pisarza, "model do składania" - z rozsypanych po tekstach elementów - bardziej spójnego obrazu jego twórczości i postawy życiowej. Znakomite przygotowanie i autorytet dziennikarski bądź artystyczny większości rozmówców, kontrapunkt żartu, przejrzystość myśli pisarza i jego nieupozowanie stanowią o jej lekturowej atrakcji.

Tom kończy pięć rozmów Tadeusza Różewicza z Czesławem Miłoszem, animowanych przez Renatę Gorczyńską. Tych poetów łączy szczególny w polskiej literaturze związek przyjaźni i dystansu. Choć tylko kilka razy się spotkali - czasami pisali do siebie - przez blisko 60 lat byli dla siebie punktami odniesienia. Od wiersza "poeta emeritus" (1996) Tadeusza Różewicza rozwinęła się ich arcyciekawa polemika poetycka. Trzy z tych rozmów nie były dotąd drukowane.

Zu jeder Jahreszeit stellen wir Ihnen wichtige polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, deren Werke  in Originalsprache   und in deutscher Übersetzung in der Bibliothek  ausgeliehen werden können.

In der Navigation finden Sie ältere Literarische Portraits.

Tadeusz Różewicz

Links & Interessantes