DPI im Herbst c K. Walczyk

Herbst © Karolina Walczyk

Literarisches Portrait

Zu jeder Jahreszeit stellen wir Ihnen wichtige polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, deren Werke  in Originalsprache   und in deutscher Übersetzung in der Bibliothek des DPI ausgeliehen werden können.

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Herbst 2018

Czesław Miłosz (1911 - 2004)

"...Der Fortschritt ist ein Apfel, von dem schon Dostojewskij und Nietzsche gewußt haben, daß er wurmstichig ist. ... "

Czesław Miłosz wurde am 30. Juni 1911 in Šeteniai (poln.: Szetejnie), Gouvernement Kowno, Russisches Kaiserreich (heute Litauen) als Sohn eines Brücken- und Straßenbauingenieurs geboren. Sein Abitur machte er 1929 am König-Sigismund-Gymnasium in Wilna. Er studierte Jura und gründete in dieser Zeit bereits im Alter von zwanzig Jahren mit anderen Schriftstellern der avantgardistischen Poetengruppe1)  die Literaturzeitschrift Żagary (Glut/Fackel). In dieser Zeit vertrat er einen lyrischen Katastrophismus2) und brachte 1933 seinen ersten Lyrikband “Gedicht von der erkalteten Zeit” 3) heraus. Die Dichtergruppe, die sich um ihn herum bildete, nannte man wegen ihrer düsteren apokalyptischen Visionen die Katastrophisten. Miłosz betonte, dass er sich dem Katastrophismus verbunden fühlte und diese Verbindung nie abgelegt habe. Er sei sein Leben lang Katastrophist geblieben, immer verbunden mit der Erwartung einer neuen allgemeinen Harmonie4).  Miłosz verzichtete jedoch auf verzerrte Bilder von Krieg, Tod, Horror und metaphysischer Hoffnung. Er kannte die Bedeutung von Distanz und Reflexion und schrieb im Bewusstsein dessen ironische, bittere Gedichte, die durch Beobachtungen aus den Warschauer Straßen entstanden.  Seine beiden großen Gedichte "Campo dei Fiori" und "Armer Christ sieht das Ghetto" bezeugen seine scharfsichtige Beobachtung der Vernichtung der Juden und zeigen gleichwohl, was Humanismus in der Lyrik im Moment der Katastrophe sein kann. Zudem vergaß er nie die Erinnerung daran, dass es eine gute, ideale Welt gibt.5)

Darmstädter Schloss im Hintergrund - © Karolina Walczyk

Nach seinem Aufenthalt als Stipendiat in Paris, wo er im polnischen Emigrantenverlag Instytut Literacki arbeitete, war er beschäftigt am Wilnaer Studio des polnischen Rundfunks und an der Zentrale des polnischen Rundfunks in Warschau. Während des zweiten Weltkriegs hielt er sich in Polen auf und nahm an konspirativen Aktionen teil.  6)

Zwischen 1945-1951 wurde Miłosz polnischer Kulturattaché in New York, Washington und Paris. Während dieser Zeit publizierte er noch zahlreiche Gedichte, Zeitungsartikel und Übersetzungen. Nachdem er 1951 nach Frankreich auswanderte, erfolgte dann die Publikation seines Essaybandes "Verführtes Denken"7), eine Studie über die Lage der Intellektuellen im stalinistischen Polen. Miłosz’ Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. Er wurde auch anerkannt als Übersetzer englischer, amerikanischer und französischer Literatur. Berühmte Autoren wie Shakespeare, Eliot, Whitman und Baudelaire wurden von ihm ins Polnische übertragen und polnische Lyrik ins Englische.8)

1960 wurde er Dozent für slawische Literatur an der Berkeley University, Kalifornien. Hier erhielt er 1970 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er schrieb dort ein weiteres Buch und schilderte seine Situation mit Wehmut: "Wenn man nirgendwohin zurückkehren kann, muss man das Gegebene akzeptieren. Doch wie soll man damit zurechtkommen? Wie soll man es sich aneignen?" An einer der Weltbesten Universitäten lehrend, fühlte er sich wie "in the middle of nowhere".9)

Anfang der 80er Jahre wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er wurde vom Nobel-Komitee gewürdigt als Autor, "der mit kompromisslosem Scharfblick der exponierten Situation des Menschen in einer Welt von schweren Konflikten Ausdruck verleiht". Dies und die in Danzig eingeleiteten demokratischen Reformen stellten auch einen Wendepunkt für die Erscheinung seiner Werke in Polen dar – diese durften nämlich wieder offiziell in Polen erscheinen. Bis dahin durfte in Polen kein Buch von ihm offiziell an die Öffentlichkeit treten, selbst Erwähnungen seines Namens waren durch die Zensur verboten. Er selbst kehrte erst nach der politischen Wende 1989 in das Land zurück und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Krakau. 1982 gehörte er zu den Mitunterzeichnern eines "Appells an die deutschen Nachbarn", in dem exil-polnische Schriftsteller und Wissenschaftler gemeinsam ihren Zusammenhalt gegen den sowjetischen Imperialismus zeigten.10) Ab Ende der 80er Jahre hielt er sich dann verstärkt in Krakau auf, wo er dann 2004 starb.

Miłosz hatte eine Neigung zur Natur-und Landschaftslyrik, die auch in der deutschen Poesie reichlich vertreten ist. Auch auf die Metaphysik bezieht er sich in seinen Schriften. Er verbindet gelegentlich sein heimatliches Landschaftsthema auf kunstreiche Weise mit fernen Landschaften, lässt aus Sehnsuchtslandschaften Phantasielandschaften entstehen, stellt mehr oder weniger deutlich auch eine Verbindung zum Motiv der himmlischen Heimat des Menschen her.11)  In Miłosz’ Lyrik besteht die Landschaft "nicht aus wenigen repräsentativen Elementen, sondern wird in ihrer ganzen Vielfalt an Farben, Düften und Formen mit akribischer Präzision geschildert".12)  Da Miłosz seine Kindheit und Jugend in Litauen verbrachte, schreibt er in seiner Lyrik oft poetisch über das Heimweh nach dieser Landschaft, die wegen der gespannten Beziehungen zwischen den neu entstandenen Staaten Polen und Litauen verschlossen war.

Bekannte Aussagen über Czesław Miłosz  

 

Waldemar Dąbrowski, poln. Kulturminister a. D.

"Es ist schwer, einen Zeugen zu finden, der die polnische Geschichte so schmerzvoll erlebt hätte und sie auch beschrieben hätte, wie Czesław Miłosz."

 

Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker

"Miłosz ist von schwermütiger Nachdenklichkeit und leidenschaftlichem Engagement gewesen."

 

Joseph Brodsky, Literaturnobelpreisträger

"Einer der größten, vielleicht der größte Dichter unserer Zeit."

 

Tony Judt, Europa-Historiker

"Der größte polnische Dichter des 20. Jahrhunderts."

 

Adam Zagajewski, Schriftsteller, Lyriker und Essayist

"Er wollte alles verstehen. Mit den vorherrschenden Ansichten seiner Zeit war er entweder einverstanden oder legte sich mit ihnen an; er trat als Publizist hervor, als Philosoph, als Verfechter von Ideen."

 

 

 

 1) Zur Avantgarde zählen politische und künstlerische Bewegungen, zumeist des 20. Jahrhunderts, die eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts gemeinsam haben und sich durch besondere Radikalität gegenüber bestehenden politischen Verhältnissen oder vorherrschenden ästhetischen Normen auszeichnen.
 
2) Besonders dramatisch verlaufende Prozesse sozialen Wandels und damit einhergehende Forderung nach Verbesserung der politischen und rechtlichen Bedingungen.
 
3) http://www.planetlyrik.de/czeslaw-milosz-gedichte/2011/12/
 
4) Freise, Matthias (2014): Czesław Miłosz und die Geschichtlichkeit der Kultur. Tübingen: Narr: 21. 

5) Lyrikzeitung & Poetry News (2011): 147. Czesław Miłosz 100., Text abrufbar unter: https://lyrikzeitung.com/2011/06/30/147-czeslaw-milosz-100/ (Zugriff am 15.8.2018).
 
6) Perlentaucher (2018): Czeslaw Milosz - 6 Bücher -. Text abrufbar unter: https://www.perlentaucher.de/autor/czeslaw-milosz.html (Zugriff am 7.8.2018a).
 
7) der polnische Originaltitel lautet "Versklavtes Denken"
 
8) dpa (2004): Trauer um Nobelpreisträger Czeslaw Milosz. In: DIE WELT, 13. August 2004. Text abrufbar unter: https://www.welt.de/vermischtes/article334363/Trauer-um-Nobelpreistraeger-Czeslaw-Milosz.html (Zugriff am 24.8.2018).
 
9) Grudzińska-Gross, Irena (2012): Czeslaw Milosz und Joseph Brodsky: Die Freundschaft Zweier Dichter. Frankfurt am Main: Peter Lang: 141.
 
10) dpa (2004): Trauer um Nobelpreisträger Czeslaw Milosz. In: DIE WELT, 13. August 2004. Text abrufbar unter: https://www.welt.de/vermischtes/article334363/Trauer-um-Nobelpreistraeger-Czeslaw-Milosz.html (Zugriff am 24.8.2018).
 
11) Lawaty, Andreas/Zybura, Marek (Hrsg.) (2013): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme: Ars poetica - Raumprojektionen - Abgründe - Ars translationis. Osnabrück: fibre: 90 f.
 
12) Royon, Natacha (2010): Wiederkehr im Wort - östliche Erinnerungsorte in Werken von Wolfgang Koeppen, Johannes Bobrowski, Czesław Miłosz und Stefan Chwin. Hamburg: Kovač: 196 f.

 

 

 

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Czesław Miłosz

Ausgewählte Werke:

 

Hündchen am Wegesrand

 Aus dem Polnischen und Englischen von Doreen Daume
München : Carl Hanser  Verlag, 2000. 235 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/H

Klappentext:

Das Gefühl, es müßte doch eine bestimmte Wortfolge geben, worin so etwas wie die Essenz aller Ungeheuerlichkeiten, die wir in diesem Jahrhundert erfahren haben, festgehalten ist. Daraufhin die Lektüre von Tagebüchern, Erinnerungen, Reportagen und Gedichten, immer wieder voller Hoffnung und immer mit demselben Ergebnis: "Das war es nicht.".

Nur zögernd reift der Gedanke, daß die Wahrheit über das Schicksal des Menschen auf Erden eine andere ist als die Wahrheit, die man uns lehrte. Doch wir schrecken davor zurück, sie beim Namen zu nennen.

 

 

MIŁOSZ Gedichte

 In der Übertragung von Karl Dedecius und Jeannine Łuczak-Wild.
Mit einem Nachwort von Aleksander Fiut.


Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1982. 228 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/Ge-2

 

Mehr Informationen zum Buch

 

 

 

Die Straßen von Wilna

Aus dem Poln. von Roswitha Matwin-Buschmann
München: Carl Hanser Verlag, 197. 176 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/S

Klappentext:

Czesław Miłosz, der litauische Dichter polnischer Sprache, führt uns in den erinnerungen an seine Jugendzeit in der zwischen grünen Hügeln an der Wilna gelegenen Stadt der vierzig Kirchen durch ihre Straßen, Gassen und Gärten, vorbei an den alten Kirchen, der Schule, der Universität und entlang dem Fluß mit seinen Ausflugsdampfern und den Flößen aus den fernen Wäldern und läßt vor unseren Augen noch einmal das heute zerstörte Leben in einer vielsprachigen Stadt und ihrer kosmopolitischen Bürgerkultur erstehen.

 

 

Visionen an der Bucht von San Francisco

Aus dem Polnischen von Sven Sellmer
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. 258 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/V

Klappentext:

"Sicher, Amerika, das ist: staubiges Gebüsch, das Grün der Bäume und Rasenflächen, ein Holzschuppen, ein Baum, eine rostige Karosserie, überwuchert von Unkraut. Und doch ist das Zeichen des Molochs überall, und alle Städte sind eine Stadt, alle Straßen eine Straße, alle Geschäfte ein Geschäft, und sich tausend Meilen fortzubewegen verliert jeglichen Sinn, denn wohin man auch aufbricht, man trifft auf dieselbe sich voranwälzende Wand."

Mehr Informationen zum Buch

 

 

Das Tal der Issa

Aus dem Poln. von Maryla Reifenberg

Köln : Kiepenheuer & Witsch, 1957, 273 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/Tal

Umschlagstext:

Ein verlorenes Paradies in den litauischen Wäldern.

Dieses Buch zeugt von einer untergegangenen Welt. Die Issa ist ein dunkler Fluß an der alten polnisch-litauiscben Grenze. Ihr Tal liegt in einer Urlandschaft, in der noch Bären und Elche, Schlangen und Wölfe leben. Die Außenwelt, heißt es, "verhüllt der Nebel".

Hier verbringt Thomas Dilbin, der Doppelgänger des Autors, im Herrenbaus seines Großvaters eine ebenso leuchtende wie unheimliche Kindheit. Der nervöse, übersensible Junge erfährt und erleidet seine Éducation sentimentale in einer vormodemen Gesellschaft mit heidnischen Zügen. Man geht auf die Jagd, webt seine Kleider und zieht seine Kerzen selber. Aber die Idylle hat einen doppelten Boden. »Die Besonderheit des Tals liegt in der Zahl seiner Teufel. Sie ist dort größer als anderswo.« Poltergeister, Exzentriker, Selbstmörderinnen und Brandstifter bevölkern die Dörfer, und der Gutsherrschaft droht der Untergang. Entlaufene Soldaten und Hungerflüchtlinge tauchen als Boten des fernen Weltkriegs und der nahen Revolution auf.

Mit dreizehn Jahren wird Thomas aus seinem archaischen Paradies vertrieben. Viele Jahrzehnte später wird sich Milosz im Exil seiner Jugend erinnern, mit einer Tiefenschärfe, die nur einem großen Dichter gegeben ist.

 

Dar / Gabe - Czesław Miłosz

Ausgewählt und übertragen von Karl Dedecius

Kraków : Wydawn. Literackie, 1998. 295 S.

Unsere Signatur: U pd Mił/D

Zweisprachig: DE / PL

Umschlag:

Die schönsten und wichtigsten Gedichte des Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz in der Auswahl und Übertragung von Karl Dedecius.

"Die Sprache ist meine Mutter, ganz wörtlich und übertragen. Und gewiß mein Hasus, mit dem ich über die Welt wandere. (...) Ich lebte in einer idealen Landschaft, die mehr in der Zeit als im Raum existierte. Alte Bibelübersetzungen, Kirchenlieder, Kochanowski, Mickiewicz und die Dichtung meiner Zeitgenossen schufen sie".  - Czesław Miłosz (Miłoszs kleines ABC)

 

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Czesław Miłosz

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