14.03.2022 - Gesellschaft , Kultur, Geschichte

Die filmische Oberschlesien-Trilogie von Kazimierz Kutz heute neu betrachtet

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Kazimierz Kutz (1929-2018) gehört zu den wichtigsten oberschlesischen Persönlichkeiten im Polen der letzten Jahrzehnte. Unbequem für alle, bewies er seine souveräne Position in diversen politischen wie kulturellen Debatten. Er war ein Demokrat, der im Senat (dem Oberhaus des polnischen Parlaments), in Medien, in Diskussionen immer eine eigene Position vertrat. Bekannt wurde er nach 1990 vor allem als oberschlesischer Lokalpatriot und Sympathisant der Autonomiebewegung RAŚ, die seit einiger Zeit vor allem im Industrierevier um Kattowitz aktiv ist. Sie trieb lautstark die Diskussion über Regionalismen in Polen voran, so dass man in Polen den Ruf der letzten oberschlesischen „Autochthonen“ auf jeden Fall vernommen hatte. Ja, der letzten, denn mittleiweile gibt es mehr „echte“ Oberschlesier in Deutschland, und diejenigen, die noch in den Wojewodschaften Oppeln und Kattowitz (Schlesien) leben, sind längst von der in Oberschlesien nach 1945 zugezogenen polnischen Bevölkerung majorisiert worden. Kutz leistete der RAŚ öffentlichkeitswirksame Hilfe, indem er den „Warschauer Blick“ auf Polens Regionen, zumal auf die ehemaligen deutsch-polnische Grenzregionen lenkte und kritisch kommentierte. Seine Anliegen waren: Anerkennung der komplizierten Grenzland-Identitäten, Wahrnehmung der kulturellen Vielfalt, Verständnis für regionale Dialekte, Sitten und andere Eigenarten.

Seit Mitte der 1950er Jahre zählte Kutz zu den bekanntesten polnischen Filmregisseuren, er gehörte der „polnischen Filmschule“ um Andrzej Wajda, Andrzej Munk und Janusz Morgenstern an, später ging er eigene Wege, aber die Auseinandersetzung mit Polens (regionaler) Geschichte ließ ihn sein Leben lang nicht los. Von seiner Herkunft (1929 in Szopienice / Schopinitz geboren) war in seinen Werken zunächst nichts zu spüren. Als Oberschlesier in Lodz, später in Warschau, wollte oder musste er zunächst sein Polentum, seine Loyalität, ja seine Kosmopolität unter Beweis stellen mit Filmen wie Krzyż Walecznych (Tapferkeitskreuz), Nikt nie woła (Niemand ruft), Ktokolwiek wie (Wer kennt diese Frau), Upał (Hitze). Kutz über jene Zeit: „Schlesien – das war kein Thema für Gespräche mit Freunden, einfach weil Schlesien in Polen falsch verstanden wurde – zuerst die Wehrmacht, dann der Sozialismus. Als jemand von dort hat man sofort die Arschkarte gezogen, schon deswegen sollte man lieber über Schlesien schweigen. Zu erklären, polnischer Oberschlesier zu sein, hatte keinen Zweck“[1]. Erst 1969 begann Kutz sein Oberschlesien-Triptychon mit Sól ziemi czarnej (Das Salz der schwarzen Erde, 1969), Perła w koronie (Eine Perle in der Krone, 1971) und Paciorki jednego różanca (Perlen eines Rosenkranzes, 1979). Es sind Filme, die jahrzehntelang repräsentativ für die polnische Filmproduktion waren und die sich mit der Geschichte und Gegenwart dieser besonderen Region beschäftigten.

Zuschauer, die ein Gespür für regionale Geschichte, Dialekte und Kultur haben, werden bei der heutigen Betrachtung des Triptychons enttäuscht sein. Er findet darin nicht sehr viel von dem später von Kutz geforderten Verständnis für die Vielfalt der Region. Alle drei Filme zeigen nämlich nur eine Dimension: das ausschließlich polnische Oberschlesien, mit Menschen, die nur eine, und zwar die polnische nationale und kulturelle „Option“ repräsentieren. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich nur auf diesen Aspekt des Triptychons.

Sól ziemi czarnej erzählt von militärischen Aufbegehren eines Teils der Oberschlesier beim 2. Aufstand im August 1920 gegen die deutsche Vorherrschaft und für die Angliederung der Region an das 1918 wiedererstandene Polen. Die Hauptprotagonisten – der Vater und die sieben Söhne Basista – kämpfen tapfer gegen die als eine graue militärische Masse dargestellten Deutschen, deren maschinenartiges Erscheinungsbild als Militärkolonne sehr an die Wehrmachtdarstellungen aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert. In Wirklichkeit kämpfte auf deutscher Seite damals kein reguläres Militär, sondern es waren vor allen paramilitärische Selbstschutz- und Freikorpseinheiten, die im Äußeren und in Ausrüstung mit den „polnischen“ Aufständischen durchaus vergleichbar waren (die tatsächliche militärische Gewalt hatten damals die in der Region stationierten Entente-Einheiten). Die Aufständischen – die gestern noch in Kohlegruben und Hüttenwerken arbeiteten – kämpfen im Film für ein idealisiertes Polen, ein Land voller Farben (geniale Szene mit Fernglasblick nach Polen), kontrastiert mit dem Einheitsgrau Oberschlesiens. Auch wenn der Film eine Art Tagtraum darstellt und die Ereignisse einen eher symbolischen Charakter haben, wird deutlich, dass Kutz hier das politische und psychologische Kernproblem jener Zeit völlig außer Acht lässt: Die Zerrissenheit der Oberschlesier, deren Mehrheit keinesfalls die polnische nationale Option vertrat. Gezeigt werden aber nur diejenigen, die fest überzeugt sind, für das unbekannte, mythologisierte Polen zu kämpfen, andere nationale Haltungen findet man nicht, bis auf die Gefühle des jüngsten Basista zu einer deutschen Krankenschwester, die wahrscheinlich wie die Aufständischen eine zweisprachige Oberschlesierin ist. Das Anliegen des Regisseurs war wahrscheinlich nicht, nach historischer Objektivität zu trachten, sondern Oberschlesien durch die Aufstände in die polnische Tradition einzufügen. Angesichts der Geringschätzung der Oberschlesier im Nachkriegspolen schuf Kutz eine filmische Realität, die der romantischen Tradition der polnischen Schule entsprach und der Region Selbstachtung zurückbringen sollte. Da wundert es nicht, dass Kutz das offizielle Bild der Region aus der Zeit der Volksrepublik aktiv mitprägt: Oberschlesier waren (alle oder fast alle) polnische Patrioten, die durch die Deutschen germanisiert wurden, aber ihrem Polentum treu geblieben sind und dies in den Aufständen unter Beweis stellten.

Interessant wird es noch, wenn man fragt, wer im Film die Oberschlesier spielt. Wenn man die Hauptdarsteller hört, merkt man sofort, dass wohl keiner von ihnen mit einem wirklichen oberschlesischen Tonfall aufwarten kann, bei den meisten ist es ein gekünstelter Dialekt, der hin und wieder einfach „vergessen“ wird und durch das Hochpolnische ersetzt wird. Das ist nicht weiter verwunderlich – auch wenn man den beiden Hauptdarstellern Olgierd Łukaszewicz und Jan Englert das sprachliche Bemühen anerkennen muss, so wird dem Betrachter schnell klar, dass hier allemal sprachliche „Warschauer“ Distanz vorherrscht, es fehlt der Tonfall, es fehlt der Blues der Sprache, der ja doch die regionale Authentizität ausmacht… Möglicherweise fand Kutz in Oberschlesien keine geeigneten Schauspieler, seine Heldengeschichte verlangte aber auch nach phantasievollen, romantisierenden Gestalten, deren Protagonisten er in Warschau fand. Kutz er war dafür bekannt, dass er den Oberschlesiern diese selbstbewussten männlichen Merkmale absprach und sie oft genug der Mut- und Anspruchslosigkeit („dupowatość“) bezichtigte. Der romantische Kampf um ein polnisches Oberschlesien hat mit diesem Werk ein filmisches Denkmal erhalten, aber mit der dramatischen Wirklichkeit jener Zeit, mit einem Abwägen der Haltungen und den nationalen Trennlinien, den familiären Zerwürfnissen und sprachlichen Nuancen hat der Film nichts zu tun. Sicherlich durfte Kutz die polnische Geschichte damals, vor mehr als 50 Jahren, nicht anders als eben heroisch zeigen, war doch der offizielle Kult um die „schlesischen Aufstände“ einer der Eckpfeiler polnischer Ansprüche auf die Oder-Neiße-Gebiete.

Dass die polnische Option nicht eindeutig positiv für Oberschlesien war, zeigt Kutz in Perła w koronie. Obwohl er bereits im unabhängigen Polen spielt, müssen Oberschlesier hier wieder in den Kampf ziehen, was für die ehemaligen Aufständischen sicher enttäuschend gewesen sein muss. Diesmal streiken sie im Jahr 1934 gegen den Willen der deutschen Eigentümer, die angesichts der Weltwirtschaftskrise die Grube Zygmunt wegen Unrentabilität schließen wollen. Der Anführer des Streiks – ein Sozialist (gespielt von Franciszek Pieczka) – konstatiert, dass der einzige Unterschied zu früher die Uniform des Polizisten ausmache, für ihre politischen Umtriebe würden die Streikenden nun von polnischen statt deutschen Ordnungshütern geschlagen. Hier hört man einen leisen Vorwurf gegenüber dem Warschauer Vorkriegsregime, das am status quo Oberschlesiens mit „deutschen Kapitalisten“ festhält (in Wirklichkeit bemühte sich der Woiwode Michał Grażyński stark, die Industriebetriebe nach 1926 von deutschen Eigentümern „zu befreien“). Hubert, der Streikanführer, meint: „Erst wenn es ein gerechtes Polen geben wird, wird Oberschlesien wirklich befreit“, sicherlich ein Seitenstich gegen das kapitalistische Zwischenkriegspolen und ein vermeintliches Plädoyer für die sozialistische Volksrepublik. Noch zur Sprache: Ausgerechnet Pieczka, der einzige Schauspieler im Film (bekannt von der Rolle des Gustlik in der populären TV-Serie Vier Tankisten und ein Hund), bei dem immer der oberschlesische Tonfall auffällt, bemüht sich hier so gut wie nur möglich Hochpolnisch zu sprechen – ein rätselhafter und enttäuschender Eingriff (des Regisseurs Kutz???). Wollte Kutz dadurch den Oberschlesier für sein polnisches Publikum durch die Sprache romantik-tauglich machen und ihm typisch polnische Merkmale verleihen – Mut, Kampf, Überzeugung?

Paciorki jednego różańca zeigt dann das kommunistische oberschlesische Paradies am Ende der 1970er Jahre: Die Grubenverwaltung stampft auf Teufel komm raus Plattenbauten aus dem Boden und zerstört damit historisch gewachsene Vorstadtgemeinschaften. Ausgerechnet der hochdekorierte „Held der Arbeit“ Karol (Karlik) Habryka, der in einem typischen kleinen Werkshäuschen aus der Vorkriegszeit seine Rente genießt, stellt sich dagegen und will sein Anwesen nicht für eine Wohnung im Hochhaus eintauschen. Mehr noch - er leistet Widerstand. Ein gewagtes Sujet, das auf das polnische Kino der moralischen Unruhe mit Zanussi, Kieślowski und Holland hinweist, und den gesellschaftlichen Ungehorsam gegen die Machthaber ankündigt (1980 entstand die Solidarność). Hier aber ist der Held noch alleine, keiner sonst hat den Mut, gegen die Grubenoberen, die Miliz, die Partei aufzubegehren: Habrykas Nachbarn ziehen in die „Hochhausschubladen“, der Sohn ebenfalls, die Ehefrau ist unglücklich und zerrissen. Der Film gleicht in erster Linie einer universellen Moralität, Oberschlesien ist aber nicht nur Kulisse. Habryka verteidigt, als Atheist und Sozialist nicht ganz typisch für die Region, die traditionellen oberschlesischen Werte: Verbundenheit mit Arbeit, Familie und Heimat. Der Film geht auf eine authentische Auseinandersetzung um die Zerstörung von Teilen der einmaligen Gieschewald-Siedlung (poln. Giszowiec), eines Stadtteils im Süden von Kattowitz, Ende der 1970er Jahre zurück. Einmalig war auch der Hauptprotagonist, gespielt von einem tatsächlich betroffenen Laien mit Namen Augustyn Halotta, dessen Holzhaus der Abrissbirne tatsächlich zum Opfer fiel. Zusammen mit seiner Frau (Marta Straszna) wirken sie nicht zuletzt durch ihre Sprache authentisch polnisch-oberschlesisch. Allerdings sprechen die Direktoren, Ingenieure, aber auch einfache Nachbarn, ja selbst die Kinder und Enkelkinder keinen richtigen Dialekt, dies wirkt gekünstelt. Auch hier enttäuscht Pieczka, der versucht gekünstelt Hochpolnisch zu sprechen, dagegen bemüht sich sein Bruder zwar Oberschlesisch zu sprechen, jedoch mit mäßigem Erfolg.

Kutz´ Werk zeigt symbolisch das Ende einer bestimmten Epoche Oberschlesiens, wie aus einer zweisprachigen Region eine einsprachige, eine kulturell homogene wird, er zeigt, dass Menschen „aus dem richtigen Polen“ in die gigantischen Industriekombinate kommen, das Land und seine Schätze für sich einnehmen, die Region kulturell und sprachlich umkrempeln. Symbol dessen sind die Attacken der „asiatischen“ Hochhausbewohner, die sich gegen den „egoistischen Alten“ stellen, die Söhne in Betrieben unter Druck setzen, den Enkel überfallen, die Haustiere töten. Symbolisch wird die Region, wie Kutz sie kannte – ein Oberschlesien der Oberschlesier mit ihren traditionellen Werten - in der Begräbnisszene von Habryka zu Grabe getragen. (Es gibt noch eine andere Deutung der Szene: Zu Grabe getragen wurde einige Jahre zuvor auch der Woiwode Ziętek, ein oberschlesischer Kommunist und Kutz´ Verbündeter im Kampf um ein menschliches Antlitz der Region. Ziętek stand mit dem mächtigen Kattowittzer Parteisekretär Zdzisław Grudzień auf Kriegsfuß, dessen Modernisierungsmethoden hier als entmenschlicht gezeigt werden. Den Film soll Kutz ein wenig „im Geheimen“ gedreht haben, wohl wissend, dass er damit Grudzieńs Zorn hervorrufen würde; überraschenderweise äußerte dieser keine Bedenken, Zeugen wollen gesehen haben, wie Grudzieńs Frau nach der Filmpremiere in Tränen ausbrach.)

Bei aller Sensibilität für die oberschlesische Seele: Die 1970er Jahre in Oberschlesien werden in diesem letzten Film nicht objektiv gezeigt: Keine der Gestalten trägt sich etwa mit dem Gedanken, nach Westdeutschland auszureisen, keiner hat dort Verwandte, keiner bekommt Pakete „aus dem Rajch“, keiner hat irgendwas mit einer „deutschen Option“ zu tun. Allerdings ist hier ehrlichkeitshalber daran zu erinnern, dass viele Oberschlesier nicht untätig geblieben sind: Angesichts der enttäuschenden ökonomischen, aber auch gesellschaftlicher Entwicklung wie etwa der zunehmenden Entfremdung im eigenen Land haben mehr als 200.000 von ihnen in den 1970er Jahren und im nächsten Jahrzehnt weitere Hunderttausende die Region in Richtung Bundesrepublik verlassen, darunter viele ehemalige „schlesische Aufständische“. Diese sind heute in der westdeutschen Gesellschaft angekommen, ihre Kinder wissen in der Regel nur noch, dass ihre Vorfahren aus dem „Osten“ kommen. Aber sie erkennen, sollten sie Kutz´ Filme heute ansehen, die Familientradition und die Lebenswirklichkeit ihrer Eltern und Großeltern nicht wieder. So ist Kutz mit seinem Oberschlesien-Triptychon heute relativ einsam geblieben.



[1] Aleksandra Klich, Cały ten Kutz. Biografia niepokorna, Kraków 2009, S. 51