12.12.2023 - Über Bücher, Kultur, Gesellschaft
Kaluzas Pflichlektüren: „Duchologia polska“ von Olga Drenda
Wenn wir heute über die Transformation in Polen und Mittelosteuropa sprechen, meinen wir in der Regel die demokratischen Umwälzungen um 1989-90, gepaart mit dem Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Wenn Olga Drenda über die Ästhetik der Umbruchszeit spricht, meint sie die rasanten wie unerwarteten Änderungen, die sich damals auf die Ebenen der populären Kultur, Musik, Werbung, aber auch der Sozialpsychologie der ganzen polnischen Gesellschaft erstreckten. Die Halbsätze, Versatzstücke, Erinnerungsfetzen, die zu diesem Buch geführt haben, haben ihre Quellen in Jacques Derridas „Hauntology“-Konzeption. Drenda wendet Derridas Motto der „Gegenwart, die von der Vergangenheit heimgesucht wird“ auf das Gebiet der Transformation polnischer Alltagskultur an. Bereits vor vielen Jahren begann sie einzelne Elemente zu sammeln: Gegenstände, Zitate und Zeitungsausschnitte, die sie auf einer Fanpage im Internet kommentierte. 2016 entstand ihr atemberaubender Essay, der die Hauntology-Zeit ihrer eigenen Generation näherbringt. Die sog. Millennials scheinen dafür besonders empfänglich zu sein, finden sich in der heutigen polnischen Medienwelt doch immer wieder Anknüpfungspunkte auf die „Zeit der Volksrepublik“ (1944-89), etwa bei populären Netflix-Serien wie „Im Sumpf“, „Das Grab im Wald“, „Herr Spaßmobil und die Tempelritter“.
Faszinierend fand die Autorin die Beschäftigung mit Artefakten, die es nicht mehr gibt, die aber ganze (ihr vorausgegangene) Generationen in Erinnerung halten. So wie die Erinnerung lückenhaft sein kann, so ist auch Drendas Zugang zu ihren Gegenständen – oft erinnert ihr sensibel geführtes Narrativ an unscharfe, verschwommene, an den Rändern abgenutzte Familienfotos. Ganz in diesem Sinne betrachtet sie Bilder, Plakate, Buchumschläge, Zeitschriften und LP-Covers im Design der Zeit, in damaliger Sitte und Geschmack getränkt - aus Sicht eines einfühlsamen, doch kritischen Betrachters. Verschwommenen Fragmenten gibt sie Schärfe, leise Töne stellt sie lauter, vergessene TV-Programme und Videofilme erweckt sie wieder zum Leben. Mit ihrem Buch präsentiert sie ein buntes Potpourri gesellschaftlichen Wandels seit der Mitte der 1980er Jahre (ein zögerlicher Beginn der Wirtschaftsreformen mit Zulassung von ausländischen Firmen) über die politischen Schicksalsjahre 1989-90 bis zum Erlass des Gesetzes über geistiges Eigentum (1994), mit dem die Produktpiraterie bekämpft werden sollte. Von da an verlaufen Erinnerungen der Polinnen und Polen parallel zu ihren Zeitgenossen im Westen: Die Popkultur wurde von nun an von Hollywood, MTV, Bravo und großen („legalen“) Plattenlabels bestimmt. Die Zeit des Übergangs war vorbei.
Drendas Buch besteht aus acht Kapiteln, die sich mit sozialen und kulturellen Trends der Umbruchszeit beschäftigen. Sie beginnt ihre Erzählung mit der Tönung der damaligen Postkarten und Farbfotos, die heute völlig ungewöhnlich wirken. Egal welches Ausgangsmaterial damals genutzt wurde, ORWO-Produkte oder Filme aus westlicher Produktion, all diese Bilder haben heute einen gelben, hellbraunen Stich, sie wirken so, als ob sie alle in der untergehenden Sonne aufgenommen wurden. Das findet die Autorin ziemlich eigenartig, ja einmalig. Drenda zeichnet dabei die „Polenreisen“ einiger westlicher Fotoreporter nach (Teun Voeten, David Hlynski), die versuchten, den polnischen Alltag aufzufangen: Friseursalons, Lebensmittelläden, Kinovitrinen. All diese Motive veranlassen die Autorin dazu, sich mit der Materie zu beschäftigen, die hinter ihnen steckt, etwa mit Filmen, die es damals im Kino zu sehen gab (auch wenn schon die Zeit der Video-Kassette angebrochen war!). Kapitel zwei beschäftigt sich mit den polnischen Interieurs und der damals typischen standardisierten Platten-Wohnungsbauweise. Der heute so geschätzte Altbau stand damals in Ungnade, alte Gebäude waren in der Regel unsaniert und bar jeder Modernität. Alle wollten in dem Klassiker des Plattenbaus wohnen, einer 2-3-Zimmer-Wohnung, mit Heizung und warmem Wasser. Die Ausstattung war geprägt von Regalwänden und Ikea-ähnlichen Produkten: Zum Symbol der Innenausstattung wurde so die schlichte Polstergarnitur Kon-Tiki, die Funktionalität mit Materialsparsamkeit vereinte. Was auf die Möbel gestellt wurde, damit befasst sich ein nächstes Kapitel, genauso wie mit dem polnischen Design und seinen Gesichtern. Während polnische Designer weltweit gefragt waren, konnten die heimischen Betriebe ihren anspruchsvollen Anforderungen oft nicht standhalten. So wurden echte Designprodukte (Holz, Lampen, Glas, Schmuck) zu echten Knüllern, soweit sie überhaupt im Inland angeboten wurden. Dem folgt ein Beitrag über die Entstehung der heute so populären Musikgattung „Disco-Polo“, die in jener Zeit in Kellern, Garagen und Hinterhöfen mitgeschnitten, auf Kassetten aufgenommen und in Basarkiosken angeboten wurde. Daneben lagen Weltstarhits von Michel Jackson oder Madonna auf ebensolchen Kassetten, denn es war auch die Hochzeit der Raubkopie-Industrie in vielen polnischen Städten.
In der Volksrepublik hatten Theater- und Opernhäuser viel Aufwand betrieben, um Originalplakate für ihre Stücke herzustellen. Sie beauftragten Grafiker, die es seit den 1950er Jahren geschafft hatten, eine Art polnische „Plakatschule“ zu etablieren und in der Welt populär zu machen. Nun hatten aber die Theater kein Geld mehr und auch der Geschmack des Publikums änderte sich langsam, viele Künstler verließen das Land oder arbeiteten in anderen Branchen, teilweise entwarfen sie noch Buchumschläge oder CD-Cover. Zu Hilfe kam die Technik: Es war die Zeit der Personal Computer und die Grafiker lernten, dass sie mit der Zeit gehen müssen. Schnell brachten sie sich Photoshop bei und veränderten die Bildästhetik. Viele wanderten einfach in die nun entstehende Werbeindustrie. Zwar hatte es diese schon in der kommunistischen Zeit gegeben, aber sie hatte in einer Mangelwirtschaft nicht die Aufgabe, den Verkauf der Produkte zu fördern. Das änderte sich nun, die Werbung, zusammen mit ihren Aktionen – Gratismustern, Bons und Rabatten – wurde allgegenwärtig. Die Polen waren zunächst einfach begeistert und kommentierten eifrig die populärsten Werbeslogans, einige von ihnen sind auch in die Alltagssprache vorgedrungen. Aber schnell ermüdeten sie dabei. Die Werbeunterbrechungen gehören heute in Polen zu den längsten der Welt und können so jeden TV-Abend kaputt machen. Ein weiterer Beitrag ist einem „Gegentrend“ gewidmet. Auf dem Weg in die kapitalistische Leistungsgesellschaft blieben viele Polen auf der Strecke, wie z. B. Menschen, die arbeitslos, krank oder abgehängt wurden. Sie suchten große Stadien auf, um vermeintliche „Heiler“ (Kaszpirowski) zu erleben, auch die Marienerscheinungen wurden häufiger, zu denen regelrechte Pilgerschaften stattfanden, ohne jedoch von der Kirche beachtet zu werden. Viele suchten nun nach Rat – die Epoche der Ratgeber begann… Das letzte Kapitel ist den polnischen Schönheitswettbewerben gewidmet, ihren Gewinnerinnen und deren späteren Karrieren.
All diese Kapitel sind durchsetzt mit Interview-Fragmenten und Zitaten von Fotografen, Werbetextern, Graphikern und Kameraleuten, die sich über die Zeit, über ihre Produkte, ihre Highlights und Misserfolge äußern. Was sie nicht oder nicht deutlich genug sehen, das ergänzen Beobachter aus dem Ausland, die dem Land – wie die genannten Fotoreporter - eine Zeitlang ihres Lebens widmeten. Die Journalistin Agnieszka Warnke meinte neulich auf Culture.pl: „Drendas Duchologia polska stellt ein Labyrinth von Gegenständen dar, deren Bekanntwerden mit tiefer Reflexion einhergeht. Drenda gibt dem Leser eine Karte, die zu den dunkelsten Ecken der Erinnerung führt. Nicht alle Punkte sind da verzeichnet, was aber nicht davon abhält, Erinnerungen wachzuhalten und zu dem zurückzukehren, was entgangen ist.“
Die „Duchologia“ ist aber vor allem auch ein Buch, dessen Lektüre Spaß macht. Ich würde es sehr begrüßen, wenn es auch in deutscher Sprache erscheinen könnte. Wer würde sich für dieses Buch hierzulande interessieren? Auch Deutschland erlebte eine Teilung, die in jener Zeit (1989-90) überwunden wurde. Auch Ostdeutschland erlebte danach eine schmerzhafte Transformation und fand sich in einer „Ostalgie“ wieder, die u.a. alte DDR-Produkte materieller und geistiger Art wiederaufleben ließ. Viele vergleichen dies mit der unterschiedlichen Entwicklung in Westdeutschland. Dagegen wäre ein Vergleich zwischen Polen und (Ost-)Deutschland in ästhetischer („hauntologischer“) Hinsicht wünschenswert. Man darf gespannt sein, ob und wie groß die Schnittmenge ausfallen würde.