12.10.2023 - Gesellschaft , Politik

Wahlstille - kurze Pause nach und vor dem Sturm

Wahlstille

Ab 24 Stunden vor dem Wahltag bis zu Schließung der Wahllokale herrscht in Polen die sog. cisza wyborcza (dt. Wahlstille oder Wahlkampfruhe). Die Wahlstille bedeutet das Ende des Wahlkampfes, der offiziell seit der Verkündung des Wahltermins andauert. In vielen Ländern, u.a. in Deutschland oder in den USA, ist das Konzept der Wahlstille unbekannt. In anderen versucht man hingegen durch diese Regelung den Wählerinnen und Wählern eine Atempause von den von jeder Seite einprasselnden politischen Eindrücken zu verschaffen, so auch in Polen.  

Die Wahlstille und die Schwierigkeiten

Die Ursprünge der Wahlstille in Europa reichen laut Dr. Janusz Sibora bis zur Wende des 19. und 20 Jahrhunderts. In Polen wurden bereits bei den ersten Wahlen nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 Wahlreden, die Agitation in Wahllokalen sowie im Umkreis von 100 Metern verboten. Ebenfalls untersagt blieb der Konsum oder Verkauf von Alkohol, damit die Bürger und Bürgerinnen ihre Entscheidung bei klarem Verstand treffen konnten. Die Wahlstille wurde jedoch offiziell erst nach den Umbrüchen der Jahre 1989/1990 gesetzlich eingeführt und wird auch vor dem kommenden Wahltag am 15. Oktober gelten.

Aktuell bedeutet die Wahlstille das Verbot der politischen Agitation, die im Wahlgesetz definiert wird. Die festgehaltene Definition lässt aber Spielraum für Interpretationen, die die Feststellung von etwaigen Gesetzverstößen erschweren. Es gibt aber einige grundlegende Regeln, die mit diesem Konzept verbunden sind.

Unterlassen werden sollen u.a.: Versammlungen, Manifestationen oder Reden, die für oder gegen eine Partei organisiert oder abgehalten werden. Darüber hinaus ist das Aufhängen oder aber auch das Abhängen von Wahlplakaten, die Verbreitung von Flugblättern oder das Tragen parteispezifischer Symbole in den Wahllokalen verboten. Allerdings dürfen alle Werbeprospekte, die während des Wahlkampfes an bestimmten Stellen ausgelegt wurden, auch dort bleiben. Diskutiert wird jedoch der besondere Fall der Werbung auf Verkehrsmitteln: Diese sind ja schließlich vor der Wahlstille angebracht worden, können sich aber während dieser Zeit an wechselnden Orten befinden und so die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen.

Nicht gestattet ist ebenfalls die Veröffentlichung von Umfragewerten oder Nachwahlbefragungen (Exit polls), also der Werte, die aufgrund der Befragung der Wähler und Wählerinnen am Wahltag nach der stattgefundenen Stimmabgabe ermittelt werden. Jegliche Art der Berichterstattung, sei es im Fernsehen, im Radio oder in der Presse, die einen parteinahen Charakter haben, ist nach dem Gesetz verboten.

Nicht verboten ist hingegen die Werbung für die Teilnahme an den Wahlen – die sog. „kampania frekwencyjna“ (dt. Wahlbeteiligungskampagne). Gesellschaftliche Kampagnen, die auf das Recht und Sinnhaftigkeit der Wahlbeteiligung hinweisen, dürfen auch während der Zeit der Wahlstille durchgeführt werden. Diese Maßnahme unterliegt aber bestimmten Verordnungen, u.a.: die Werbung für die Wahlen darf nicht mit einer Partei oder einem bestimmten Kandidaten assoziiert werden können. Problematisch gestaltet sich deswegen die Wahl-Agitation im Fall von Personen des öffentlichen Lebens, die sich im Vorfeld eindeutig für eine Seite der politischen Landschaft geäußert haben und deren Werbung somit mit einer bestimmten Richtung in Verbindung gebracht werden könnte.

Einen besonderen Fall der Wahlstille bildet auch das Internet. Theoretisch ist die politische Agitation auch innerhalb dieses Mediums nicht erlaubt, aber die Schnelllebigkeit der digitalen Formen macht es beinah unmöglich, im Falle eines vermeintlichen Verstoßes die Verantwortlichen zu ermitteln.

Pro und contra

 Das Konzept der Wahlstille hat wahrscheinlich genauso viele Befürworter wie auch Gegner. Einerseits soll diese Maßnahme die Zeit des hitzigen Wahlkampfs beenden und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit einer Reflexion der politischen Geschehnisse bieten. Um zu vermeiden, dass die politische Lage sich im schlimmsten Fall am Tag der Wahlen zuspitzt, hat die Institution der Wahlstille somit ihre Daseinsberechtigung. Die wichtige Wahlentscheidung lässt sich schließlich in einer ruhigen Atmosphäre, ohne äußeren Druck, wesentlich überlegter treffen. Allerdings sehen die Gegner in diesem Konzept eine Bedrohung für die Freiheit der Meinungsäußerung und deshalb einen Nachteil für die Wahlbeteiligung. Außerdem finden die Wahlen in Polen sonntags statt, die Wahlstille gilt also am Wochenende – da, wo die meisten Bürgerinnen und Bürger ihre freien Tage genießen. Das Fehlen politischer Informationen so kurz vor der Abstimmung solle auf die Wählerinnen und Wähler demotivierend wirken. Darüber hinaus wird immer wieder auf die Fiktionalität der Wahlstille hingewiesen – im Zeitalter des Internets ist die Durchsetzung dieser Maßnahme beinahe nicht machbar.

Sonderfall: Referendum

 In diesem Jahr wird in Polen zusammen mit den Parlamentswahlen, ebenfalls ein umstrittenes Referendum durchgeführt. Auch in diesem Fall gelten die für die Wahlen festgelegten Regelungen – die Wahlstille (bzw. Referendumsstille) inbegriffen. Allerdings ist das Werben für die Teilnahme an einem Referendum, im Gegensatz zu den Wahlen, untersagt. Der Grund ist hierfür die Tatsache, dass die Beteiligung am Referendum über seine Gültigkeit entscheidet und die Absicht, daran teilzunehmen, bereits eine Art bindender Entscheidung darstellt.

Schlussbemerkung

In diesem Jahr beginnt die Wahlstille um 00:00 Uhr in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober und gilt bis zur Schließung der Wahllokale um 21:00 Uhr am Wahltag. Für die Nichteinhaltung der Vorschriften drohen in Polen meist Geldstrafen, wobei die Höhe von der Art des Vergehens abhängt. Im Falle eines gemeldeten Verstoßes wird die Sachlage von den Strafverfolgungsbehörden und nicht von der Wahlkommission beurteilt. Bisher kam es bei sämtlichen Wahlen in Polen zu geringfügigen Verstößen gegen die Wahlstille.