12.10.2023 - Politik, Gesellschaft

Zurück in die Zukunft? Die Bürgerkoalition hofft auf die Rückkehr zu alter Stärke

Banner von Koalicja Obywatelska, Marsz Miliona Serc

Am Sonntag, den 1. Oktober dieses Jahres, war es endlich soweit. Wohl mehrere Hunderttausend Unterstützer der liberal-demokratischen Opposition waren dem Ruf des ehemaligen polnischen Premierministers und aktuellen Vorsitzenden der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), Donald Tusk, gefolgt und hatten sich zu einer Großdemonstration in der Warschauer Innenstadt eingefunden. Unter dem Motto Marsch der Millionen Herzen (Marsz miliona serc) kamen am 1. Oktober Unterstützer der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO), der neben der PO als stärkster Kraft noch die Partei Nowoczesna (Modern), die Grünen sowie die Inicjatywa Polska (Initiative Polen) angehören, aber auch Anhänger der weiteren Oppositionsvertreter des Dritten Wegs (Trzecia Droga) sowie der Linken (Lewica) zusammen, um für einen Politikwechsel in Polen zu demonstrieren.

Konterkariert wurde die starke Vorstellung Tusks vom ersten Oktoberwochenende von seinem schwachen Auftritt bei der Wahldebatte im polnischen Fernsehen am vergangenen Montag. Hier wirkte der frühere Ministerpräsident schlecht vorbereitet und vom langen Wahlkampf erschöpft. Anders als seine Kontrahenten erschien er zudem lediglich im Hemd ohne Sakko und schaffte es so insgesamt nicht, sich als nächster Premierminister der Republik Polen zu präsentieren. Ob es der Bürgerkoalition am kommenden Sonntag gelingen wird, die Wahlen zu Sejm und Senat für sich und die übrigen Parteien der liberal-demokratischen Opposition zu entscheiden, dürfte bis zuletzt spannend bleiben. Doch was ist das überhaupt für eine politische Formation, die die parlamentarische Opposition dominiert und es sich zum Ziel gesetzt hat, die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) nach acht Jahren an der Regierung abzulösen?

Wer koaliert in der KO?

Die mit Abstand stärkste Kraft innerhalb der Bürgerkoalition stellt zweifelsohne die Bürgerplattform dar. Die Partei wurde bereits 2001 unter anderem von ihrem heutigen Vorsitzenden Donald Tusk mitgegründet und zählt, ebenso wie ihr zentraler politischer Gegenspieler, die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit zu denjenigen politischen Kräften, die aus der Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre in der Volksrepublik Polen hervorgegangen sind. Angesichts der Intimfeindschaft zwischen PO-Chef Donald Tusk und dem PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński scheint es heute kaum noch vorstellbar, dass die beiden Parteien 2005 um ein Haar eine große Koalition miteinander eingegangen wären. Hierzu kam es letztlich nicht und so verharrte die PO bis zu den vorgezogenen Parlamentswahlen 2007 in der Opposition. Diese gewann sie dann allerdings deutlich und regierte fortan bis 2015 in einer Zweierkoalition mit der Polnischen Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL; bisweilen auch Polnische Bauernpartei genannt). 2014 gewann die PO noch einmal die Wahlen zum Europäischen Parlament, mit knappem Vorsprung vor der PiS. Im August des gleichen Jahres wurde der PO-Vorsitzende Tusk schließlich zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt, was in Polen als Karriereaufstieg und außerordentlich prestigeträchtige Position wahrgenommen wurde.

Doch mit dem Wechsel des bisherigen Parteichefs und polnischen Premierministers Donald Tusk in die europäische Spitzenpolitik geriet die Bürgerplattform in eine tiefe Krise. Zwischenzeitliche Tiefpunkte markierten die Abhöraffäre 2014, die noch zu Tusks Amtszeiten ans Licht kam, sowie die daran anschließenden Niederlagen bei den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen 2015, als die Partei binnen weniger Monate, einen beachtlichen Vorsprung in den Meinungsumfragen verspielte und die Regierungsgeschäfte an die PiS übergeben musste. Auch bei den folgenden Kommunalwahlen 2018, den Europawahlen 2019, den Parlamentswahlen 2019 und den Präsidentschaftswahlen 2020 setzte es trotz erheblicher Anstrengungen und koordinierter Zusammenarbeit mit anderen Oppositionsparteien eine Reihe herber Niederlagen. Letztlich schaffte es die Partei erst nach der Rückkehr Tusks in die polnische Politik 2021 sich auf den Weg zurück zu alter Stärke zu begeben. Dass es dem ehemaligen Premierminister innerhalb kürzester Zeit gelungen ist, eine heillos zerstrittene und am Rande des Zerfalls stehende Partei wieder zu einen und zu einem aussichtsreichen Kandidaten für die nächste polnische Regierung aufzubauen, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.

Zu den weiteren politischen Kräften der KO zählen die Nowoczesna, die Grünen, die Inicjatywa Polska und die Agrounia . Die Nowoczesna wurde 2015 unter dem Vorsitz des Ökonomen Ryszard Petru gegründet und galt als Alternative für all jene Wähler der PO, die die zunehmende „Sozialdemokratisierung“ der Partei kritisch sahen und sich eine Rückkehr zu den wirtschaftsliberalen Anfängen der PO wünschten. Diese Wählergruppen sprach die Nowoczesna mit einer dezidiert liberalen Ausrichtung in wirtschaftlichen wie auch weltanschaulichen Fragen an, und das mit Erfolg. Bei den Parlamentswahlen 2015 erlangte die Partei 7,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und zog mit insgesamt 28 Abgeordneten ins polnische Unterhaus, den Sejm, ein. Doch bereits im Vorfeld der vorgezogenen Kommunalwahlen im Jahr 2018 ging die Partei ein Bündnis mit der Bürgerplattform ein. Beide Parteien traten fortan bei den polnischen Wahlen als Koalicja Obywatelska an. Ende 2018 schloss sich die Inicjatywa Polska der KO an, ihr folgten 2019 die polnischen Grünen. 2023 schließlich komplettierte die Agrounia die Bürgerkoalition.

War bereits die Bürgerplattform durch einen wertkonservativen Flügel auf der einen und einen weltanschaulich eher liberalen Flügel auf der anderen Seite geprägt, so steht die Formation spätestes seit Beginn der Zusammenarbeit mit der ehemals abtrünnigen Nowoczesna, den Grünen und der Inicjatywa Polska und seit jüngster Zeit auch der Agrounia vor der Mammutaufgabe, einer extrem heterogenen Anhängerschaft politisch gerecht zu werden. Dabei balanciert die Partei bisweilen entlang eines schmalen Grates zwischen Pragmatismus und Beliebigkeit, wenn einerseits feministische Aktivistinnen wie Jana Shostak erst als Listenkandidatinnen aufgestellt und dann wieder gestrichen werden, Populisten wie der frühere Agrounia-Vorsitzende Michał Kołodziejczak mit ins Boot geholt werden oder gar der frühere EU-Skeptiker und das Mitglied der ersten PiS-geführten Regierung 2005 bis 2007, Roman Giertych, auf einmal aus dem Hut gezaubert wird.

Welche programmatischen Inhalte vertritt die Bürgerkoalition?

Wo sich die Bürgerkoalition programmatisch verorten lässt, ließ sich am ehesten Anfang September auf dem Konvent im südpolnischen Tarnów erahnen, auf dem die KO „100 konkrete Maßnahmen für 100 Tage des Regierens” („100 konkretów na 100 dni rządów”) präsentierte. Zu den zentralen Postulaten zählen die Anhebung des Steuerfreibetrags von bisher 30.000 auf 60.000 Złoty, die vollständige staatliche Finanzierung künstlicher Befruchtung (in vitro), Gehaltserhöhungen von mindestens 30 Prozent für Lehrkräfte, die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Woche sowie 1.500 Złoty monatliche Unterstützung für die Kinderbetreuung für Mütter, die ins Berufsleben zurückkehren (sog. „Oma-Programm“ [babciowe]). Doch wie bei den meisten übrigen Parteien, die bei der bevorstehenden Parlamentswahl antreten, wirkt auch bei der KO die Programmvorstellung eher pflichtschuldig als sinnstiftend. Schließlich handelt es sich doch im Wesentlichen um Themen, die bereits seit längerer Zeit kursieren und in Fokusgruppeninterviews von Bürgerseite immer wieder gefordert werden.

Zur Wahrheit gehört auch, dass sämtliche Themen in den letzten Wochen des Wahlkampfes kaum eine Rolle für die KO gespielt haben, wie sich auch der Wahlkampf insgesamt kaum um inhaltliche Sachfragen drehte. Der KO dürfte es vor allem darum gegangen sein, ein Programmkonzept vorzustellen, um im Wahlkampf dem Vorwurf zu entgehen, eine inhaltleere Partei ohne Wahlprogramm zu sein. Schließlich hing lange Zeit insbesondere der Bürgerplattform der wenig schmeichelhafte Ruf an, nicht so sehr Partei als vielmehr Donald-Tusk-Wahlverein zu sein, den programmatische Debatten kaum scheren und der sich durch eine wirtschaftsliberale Politik und großes Geschick bei der Absorbierung von EU-Mitteln auszeichnet. Dieses von Teilen der Wählerschaft als abgehoben und wenig volksnah wahrgenommene Gebaren gilt bis heute als einer der zentralen Gründe für die doppelte Niederlage bei den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen 2015. Und es scheint genau dieses negative Image zu sein, gegen das die PO bzw. KO in der aktuellen Kampagne ankämpft.

Was sagen die Umfragen?

Doch wie hat sich der Wahlkampf, allen voran der Marsch der Millionen Herzen und die jüngste TV-Debatte, auf die Zustimmungswerte in den Meinungsumfragen ausgewirkt?  Blicken wir zunächst auf die Umfragen im Anschluss an den Marsch Anfang Oktober. Während die PiS leicht verlor und auf nunmehr 32 Prozent kommt, konnten die Parteien der liberal-demokratischen Opposition allesamt leicht zulegen. So kommt die KO auf 28,2 Prozent, der Dritte Weg auf 11 Prozent und die Lewica auf 10,2 Prozent. Die Konfederacja (Konföderation), potenzieller Koalitionspartner der PiS, bleibt fast unverändert bei 10 Prozentpunkten stehen. Und auch die Umfragen, die bereits die TV-Debatte miteinbeziehen, zeigen hier nur marginale Veränderungen. So kommt die PiS auf nunmehr 33,5 Prozent, während die KO 28 Prozent erreicht. Es folgen der Dritte Weg mit 10,9 Prozent, die Lewica mit 10,1 Prozent sowie die Konfederacja mit 9,2 Prozent.  Insgesamt lässt sich also eine Stabilisierung der Unterstützung in den Meinungsumfragen erkennen, wobei nicht vergessen werden darf, dass die die Prognosen der in Polen tätigen Umfrageinstitute in der Vergangenheit bisweilen beachtliche Fehlerquoten aufgewiesen haben.

Fazit

Somit sind es vor allem zwei Schlussfolgerungen, die sich aus den letzten Wochen des Wahlkampfes ziehen lassen. Erstens ist es vor allem der KO, aber auch den übrigen Kräften der liberal-demokratischen Opposition gelungen, das eigene Elektorat mit einer positiven Message zu mobilisieren und Zuversicht auf einen möglichen Wahlsieg zu verbreiten. Zweitens scheint sich ein Trend in den Umfragen anzudeuten. Während sich die liberal-demokratische Opposition zunehmend stabilisiert und leicht zulegen kann, treten sowohl die PiS als auch die Konfederacja auf der Stelle, mit absteigender Tendenz. Aktuell scheint es, als ob eine weitere Emotionalisierung des Wahlkampfes kaum mehr zu weiteren Wählerstimmen führt. Es ist vielmehr eine gewisse Ermüdung des Elektorats zu vermuten, dessen Aufmerksamkeit über Wochen hinweg von den Parteien emotional bewirtschaftet worden ist. Auf der Zielgeraden vor dem Wahltag am 15. Oktober versucht die liberal-demokratische Opposition dieser Entwicklung offensichtlich etwas entgegenzusetzen: eine positive Grundstimmung und einen größeren Fokus auf Programminhalte anstelle des bisherigen negative campaigning. Inwieweit dieser Trend sich bis zur Wahl noch verfestigt, werden die letzten Tage vor der Wahlstille am Samstag zeigen.